Mit kräftigen Stößen kam er näher. Ich schnappte mir ein Ruder. Ich stach damit nach ihm, wollte ihn wegstoßen. Ich stach daneben, und das Ruder fiel ins Wasser.
Ich nahm ein zweites. Ich steckte es in eine Dolle und zog, so fest ich konnte. Doch statt das Rettungsboot von ihm fortzubringen, drehte ich es nur ein wenig, und das eine Ende war Richard Parker näher denn je.
Ich würde ihm einen Schlag auf den Kopf versetzen! Ich hob das Ruder in die Höhe.
Er war zu schnell. Schon war er am Bootsrand und hievte sich an Bord.
»Herr im Himmel!«
Ravi hatte Recht gehabt. Die nächste Ziege war ich. Ich hatte einen nassen, schlotternden, halb ertrunkenen, keuchenden und hustenden ausgewachsenen dreijährigen bengalischen Tiger in meinem Rettungsboot. Richard Parker rappelte sich auf der Plane auf, unsicher auf den Pranken, seine Augen schossen Blitze, als sie in die meinen blickten, die Ohren hatte er angelegt, alle Krallen ausgestreckt. Sein Kopf hatte die Umrisse und die Farbe des Rettungsrings, nur mit Zähnen.
Ich drehte mich um, kletterte über das Zebra und sprang von Bord.
Kapitel 38
Ich verstehe es nicht. Tagelang war das Schiff gefahren und gefahren und hatte sich nicht im Mindesten um seine Umgebung geschert. Die Sonne schien, es regnete, der Wind blies, Meeresströmungen flossen, das Meer türmte sich zu Bergen auf, das Meer senkte sich zu tiefen Tälern - der Tsimtsum machte das nichts aus. Massig, bedächtig bewegte sie sich mit der Selbstsicherheit eines Kontinents.
Ich hatte für die Reise eine Weltkarte gekauft und sie an die Pinnwand in unserer Kabine geheftet. Jeden Morgen ging ich auf die Brücke, ließ mir unsere Position geben und markierte sie dann mit einer Stecknadel mit orangefarbenem Kopf. Von Madras ging unser Kurs durch die Bucht von Bengalen, die Malakkastraße hinunter, um Singapur herum, und dann nahmen wir Kurs auf Manila. Ich genoss jede Minute. Es war so aufregend, auf einem Schiff zu sein. Die meiste Zeit hatten wir mit der Versorgung der Tiere zu tun. Hundemüde fielen wir jeden Abend in die Kojen. Wir lagen zwei Tage in Manila, wo wir frisches Futter bunkerten, weitere Ladung an Bord nahmen und, so erklärte man uns, einige Routine-Wartungsarbeiten an den Maschinen durchführten. Meine Aufmerksamkeit galt ganz den ersten beiden. Zu dem Frischfutter gehörte eine Tonne Bananen, zur neuen Ladung eine afrikanische Schimpansin, die im Zuge von Vaters Tier-Transaktionen zu uns stieß. In einer Tonne Bananen stecken gut und gern drei Pfund dicker, schwarzer Spinnen. Ein Schimpanse ist eine Art kleiner, magerer Gorilla, doch nicht so sympathisch. Ihm fehlt das Sanfte und Melancholische der größeren Vettern. Ein Schimpanse schüttelt sich und schneidet Grimassen, wenn er eine dicke schwarze Spinne anfasst, genau wie jeder von uns es tut, und dann zerquetscht er sie wütend mit den Fingerknöcheln, was wir vielleicht nicht unbedingt tun würden. Ich fand, Bananen und ein Schimpanse waren interessanter als die lärmende, schmutzige Maschinerie in den finsteren Eingeweiden des Schiffs. Ravi verbrachte seine Tage dort unten und sah den Männern bei der Arbeit zu. Die Maschinen seien nicht in Ordnung, erzählte er. War ein Fehler bei der Reparatur Schuld an unserem Unglück? Ich weiß es nicht. Und ich glaube auch nicht, dass es jemals ein Mensch erfahren wird. Die Antwort auf diese Frage liegt tief auf dem Meeresgrund, Tausende Faden tief.
Von Manila fuhren wir hinaus auf den Pazifik. Am vierten Tag, nach einem Viertel der Strecke, sanken wir. Das Schiff verschwand in einem Stecknadelloch auf meiner Karte. Ein Berg brach vor meinen Augen ein und verschwand unter meinen Füßen. Das Schiff erbrach sich, und ringsum schwamm das Erbrochene im Meer. Mein Magen drehte sich. Ich spürte den Schock. Ich spürte eine große Leere in meinem Inneren, und die Leere füllte sich mit Lautlosigkeit. Noch Tage später schmerzte mir die Brust von Entsetzen und Angst.
Etwas explodierte, glaube ich. Aber sicher bin ich mir nicht. Es geschah in der Nacht. Es riss mich aus dem Schlaf. Das Schiff war kein Luxusliner. Es war ein schmutziges, geschundenes Frachtschiff, das nicht für die bequeme Reise von Passagieren eingerichtet war. Geräusche gab es ständig. Gerade weil der Geräuschpegel so gleichmäßig und hoch war, schliefen wir wie die Kinder. Es war eine Form von Stille, die nichts stören konnte, nicht einmal Ravi mit seinem Schnarchen oder ich, wenn ich im Schlaf redete. Ein neues Geräusch war der Knall der Explosion, wenn es denn eine war, also nicht. Aber es war eine Unregelmäßigkeit. Mit einem Schlag war ich hellwach, als hätte Ravi direkt an meinem Ohr einen Luftballon platzen lassen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war kurz nach halb fünf. Ich blickte über die Kante zur Koje unter mir. Ravi schlief.
Ich zog mich an und kletterte hinunter. Normalerweise schlafe ich sehr fest. Normalerweise hätte ich mich einfach umgedreht und weitergeschlafen. Ich weiß nicht, warum ich in jener Nacht aufgestanden bin. Eigentlich hätte das eher zu Ravi gepasst. Dass etwas winkt, war einer seiner Lieblingsausdrücke. »Das Abenteuer winkt«, hätte er gesagt und sich dann an die Erkundung des Schiffes gemacht. Die Geräusche hatten jetzt wieder ihre normale Lautstärke, auch wenn es irgendwie anders klang, dumpfer vielleicht.
Ich schüttelte Ravi. »Ravi«, sagte ich. »Irgendwas stimmt nicht. Lass uns nachsehen.«
Er blickte mich schlaftrunken an. Dann schüttelte er den Kopf, drehte sich auf die andere Seite und zog sich die Decke bis ans Kinn. Ach, Ravi!
Ich öffnete die Kabinentür.
Ich weiß noch, wie ich den Korridor hinunterging. Er sah immer gleich aus, bei Tag wie bei Nacht. Aber ich spürte die Nacht in mir. An der Tür von Vater und Mutter blieb ich stehen und überlegte, ob ich klopfen sollte. Ich blickte dann, das weiß ich noch, auf meine Uhr und entschied mich dagegen. Vater war immer ärgerlich, wenn man ihn weckte. Ich würde allein nach oben gehen und mir den Sonnenaufgang ansehen. Vielleicht kam eine Sternschnuppe. Daran dachte ich, an Sternschnuppen, als ich nach oben ging. Wir waren zwei Etagen unter dem Hauptdeck. Das seltsame Geräusch hatte ich schon wieder vergessen.
Ich drückte die schwere Tür zum Deck auf, und erst da sah ich, welches Wetter herrschte. Hätte es schon als Sturm gegolten? Es regnete, das steht fest, aber nicht allzu sehr. Jedenfalls nicht die Art von Platzregen, die man vom Monsun kennt. Und es war windig. Manche von den Böen hätten wohl einen Regenschirm umgestülpt. Aber ich konnte mich ohne große Mühen auf Deck halten. Die See sah rau aus, aber für eine Landratte wie mich wirkte schon ein mäßiger Seegang beunruhigend, schön anzusehen, aber doch angsteinflößend. Wellen schlugen hoch, und der Wind fasste den weißen Schaum und schmetterte ihn an die Schiffswand. Aber das hatte ich schon vorher gesehen, und das Schiff war nicht davon gesunken. So ein Frachter hat eine enorme Wucht und Stabilität, ein Meisterstück der Ingenieurskunst. Er ist so gebaut, dass er auch in der schwersten See nicht untergeht. Das war doch kein Sturm, der ein Schiff versenkte? Ich musste ja nur die Tür zumachen, und der Wind war fort. Ich ging hinaus auf Deck. An die Reling geklammert, trotzte ich den Elementen. Wenn das Abenteuer winkte, dann hier.
»Kanada, ich komme!«, brüllte ich, als die eiskalte Gischt mich durchnässte. Ich kam mir sehr tapfer vor. Es war noch dunkel, aber doch genug Licht, dass man etwas erkennen konnte. Und was das Licht beschien, war ein Pandämonium. Es ist schon erstaunlich, was für ein Schauspiel die Natur auf die Bühne bringen kann. Die Kulissen sind gewaltig, die Beleuchtungseffekte dramatisch, die Zahl der Komparsen ist gar nicht zu zählen, und das Budget für Spezialeffekte ist schlicht und einfach unerschöpflich. Was ich vor mir sah, war ein Spektakel aus Wind und Wasser, ein Vulkanausbruch der Sinne, wie nicht einmal Hollywood ihn inszenieren konnte. Aber der Boden unter meinen Füßen blieb fest. Ich war der Zuschauer auf dem Kinositz, bis zu dem die Lava nie aufspritzte.