Erst als ich hinauf zu einem Rettungsboot oben an der Brücke blickte, machte ich mir allmählich Sorgen. Das Boot hing nicht gerade, es hing schräg an seinen Flaschenzügen. Ich betrachtete meine Hände an der Reling. Die Fingerknöchel waren weiß. Nicht das Wetter ließ mich so fest anklammern. Ich hielt mich an die Reling, weil ich sonst zur Schiffsmitte hin gerutscht wäre. Das Schiff hatte Schlagseite, nach Backbord hin, mir gegenüber. Nicht viel, aber doch genug, dass es mich beunruhigte. Als ich über die Reling blickte, sah ich nicht mehr geradewegs ins Wasser. Ich sah unter mir die große schwarze Flanke des Schiffs.
Ein kalter Schauder durchlief mich. Es musste wohl doch ein Sturm sein. Besser, ich brachte mich in Sicherheit. Ich ließ los, schlitterte zur Wand, arbeitete mich vor zur Tür und zog sie auf.
Aus dem Inneren des Schiffs drangen Laute herauf. Ein tiefes metallisches Stöhnen. Ich stolperte und schlug lang hin. Aber ich tat mir nicht weh. Ich rappelte mich auf. Ich hielt mich an den Geländern fest und sprang die Treppe hinunter, vier Stufen auf einmal. Schon in der ersten Etage unter Deck sah ich das Wasser. Überall Wasser. Ich konnte nicht weiter. Es kam von unten heraufgesprudelt wie eine wütende Menschenmenge, es schäumte, es kochte. Treppen verschwanden im dunklen Strom. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Was hatte das Wasser dort oben zu suchen? Wie kam es herauf? Ich stand wie angewurzelt, erschrocken, ungläubig, unfähig, einen Gedanken zu fassen, was ich als Nächstes tun sollte. Da unten war meine Familie.
Ich rannte die Treppe wieder hinauf. Ich lief aufs Hauptdeck. Jetzt war das Wetter kein Schauspiel mehr. Ich fürchtete mich davor. Inzwischen war es nicht mehr zu übersehen: das Schiff hatte schwere Schlagseite. Und auch das Heck hing viel tiefer. Ich warf einen Blick über die Reling. Das Wasser war keine dreißig Meter mehr entfernt. Das Schiff sank. Ich konnte es nicht glauben. Es war so unvorstellbar, als hätte der Mond plötzlich Feuer gefangen.
Wo waren die Offiziere und die Mannschaft? Warum taten sie nichts? Achtern sah ich im Halbdunkel ein paar Männer laufen. Ich hatte auch das Gefühl, ich sähe Tiere, aber das tat ich als Trugbild von Regen und Schatten ab. Tagsüber hatten wir die Luken über ihren Quartieren offen, wenn das Wetter gut war, aber in ihren Käfigen blieben sie stets. Es waren schließlich gefährliche wilde Tiere, die wir da beförderten, kein harmloses Vieh. Mir war, als hörte ich Rufe über mir auf der Brücke.
Das Schiff schüttelte sich, und dann kam dieser Laut, das unglaubliche metallische Rülpsen. Was war das? War es ein großer Schrei, Menschen und Tiere wie aus einer Kehle, ein Schrei des Protests gegen den bevorstehenden Tod? War es das Schiff selbst, das den Geist aufgab? Ich fiel hin. Ich kam wieder auf die Beine. Ich blickte noch einmal über die Reling. Das Wasser stieg. Die Wellen kamen zusehends näher. Wir sanken immer schneller.
Ich hörte Affen schreien, unverkennbar. Das Deck bebte. Ein Gaur - ein indischer Bison - brach aus dem Regen hervor und donnerte vorbei, in Panik, von nichts aufzuhalten. Ich sah ihn an, verblüfft, ungläubig. Wer um Himmels willen hatte den herausgelassen?
Ich rannte zur Treppe hinauf auf die Brücke. Da oben waren die Offiziere, die Einzigen an Bord, die Englisch sprachen, diejenigen, in deren Hände wir unser Schicksal gelegt hatten, diejenigen, die Hilfe in diesem Unglück wussten. Sie würden alles erklären. Sie würden meine Familie und mich in Sicherheit bringen. Ich stieg hinauf zur mittleren Brücke. Auf der Steuerbordseite war niemand. Ich lief nach Backbord. Ich sah drei Männer, Matrosen. Ich stürzte. Ich stand auf. Sie blickten über die Reling. Ich rief. Sie drehten sich zu mir um. Sie sahen mich an, dann sich gegenseitig. Sie wechselten ein paar Worte. Sie kamen auf mich zugelaufen. Ich spürte, wie Erleichterung und Dankbarkeit in mir aufwallten. »Gott sei Dank, dass ich Sie gefunden habe«, rief ich. »Was geht hier vor? Ich bin zu Tode erschrocken. Unten im Schiff ist Wasser. Ich sorge mich um meine Familie. Ich kann nicht mehr nach unten, auf das Deck, auf dem unsere Kabinen sind. Ist denn so etwas normal? Was wollen Sie -«
Die Männer ließen mich nicht ausreden. Einer von ihnen warf mir eine Schwimmweste zu und rief etwas auf Chinesisch. Eine orangefarbene Trillerpfeife hing an der Weste. Die Männer blickten in meine Richtung und nickten heftig. Als sie mich packten und mit ihren kräftigen Armen in die Höhe hoben, fand ich überhaupt nichts dabei. Ich dachte, sie helfen mir. Ich war so voller Vertrauen, dass ich noch dankbar war, als sie mich hochhoben. Erst als sie mich über Bord warfen, kamen mir die ersten Zweifel.
Kapitel 39
Ich landete auf der halb aufgerollten Plane eines Rettungsboots zehn Meter tiefer wie auf einem Trampolin. Es war ein Wunder, dass ich unverletzt blieb. Die Schwimmweste ging verloren, nur die Pfeife hielt ich noch fest in der Hand. Das Boot war halb heruntergelassen und baumelte in der Luft. Ich hing an den Halteleinen, schwang hin und her, fünf oder sechs Meter über dem Wasser. Ich sah nach oben. Zwei Männer blickten zu mir herunter, gestikulierten wild, zeigten auf des Rettungsboot und riefen. Ich sollte etwas tun, aber ich verstand nicht, was sie mir sagen wollten. Ich dachte, sie würden ebenfalls springen. Stattdessen drehten sie sich um, machten entsetzte Gesichter, und plötzlich kam etwas gesprungen, mit der Eleganz eines Rennpferds. Das Zebra verfehlte die Plane. Es war ein Hengst, ein Grantzebra, mindestens vier Zentner schwer. Mit einem lauten Krachen landete er auf der hintersten Bank, zerschmetterte sie, und das ganze Boot bebte unter dem Aufprall. Das Tier brüllte. Man hätte etwas wie das I-a eines Esels oder das Wiehern eines Pferdes erwartet. Aber es war nichts dergleichen. Am ehesten könnte man es als lautes Bellen beschreiben, ein Kwa-ha-ha, Kwa-ha-ha, Kwa-ha-ha in höchsten Tönen der Verzweiflung. Das Maul hatte es weit aufgerissen, die Schnauze in die Höhe gereckt, und ich sah das dunkelrosa Zahnfleisch, die gelben Zähne. Das Rettungsboot stürzte in die Tiefe, und wir schlugen auf das schäumende Wasser.
Kapitel 40
Richard Parker sprang mir nicht nach. Das Ruder, das ich als Knüppel hatte nehmen wollen, schwamm. Ich klammerte mich daran und angelte nach dem Rettungsring, den sein voriger Benutzer zurückgelassen hatte. Es war entsetzlich im Wasser. Es war schwarz und kalt und wütend. Ich kam mir vor wie am Grunde eines einstürzenden Brunnens. Wasser traf mich von oben. Es brannte mir in den Augen. Es zog mich in die Tiefe. Ich bekam kaum noch Luft. Ohne den Rettungsring hätte ich keine Minute durchgehalten.
Ein Dreieck fuhr durch das Wasser wie ein Messer, fünf Meter von mir. Eine Haifischflosse. Ein abscheuliches Kribbeln, kalt und nass, lief mir das Rückgrat hinunter und wieder hinauf. Ich schwamm, so schnell ich konnte, zum Vorderende des Bootes, dem Ende, das noch mit der Plane bedeckt war. Ich hievte mich mit den Ellbogen auf den Rettungsring hoch. Richard Parker war nirgends zu sehen. Auf der Plane war er nicht und auch nicht auf den Bänken. Er musste unten im Boot sein. Ich stemmte mich noch einmal hoch. Das Einzige, was ich sehen konnte, eine Sekunde lang, war am anderen Ende das Zebra, das den Kopf hin- und herwarf. Als ich wieder ins Wasser zurückfiel, tauchte eine weitere Rückenflosse gleich vor mir auf.
Die leuchtend orange Plane war mit einem kräftigen Nylonseil fixiert, das sich durch Metallösen in dem Öltuch und stumpfe Haken in der Seitenwand des Bootes wand. Die Strömung hatte mich an den Bug getrieben. Am Vordersteven - der Bug war stumpf, das Boot hatte, wenn man so sagen will, eine Stupsnase - saß die Plane nicht ganz so fest wie an den Seiten. Da wo das Seil vom Haken auf der einen zum Haken auf der anderen Seite ging, stand sie ein wenig hoch. Ich hob das Ruder und steckte den Stiel in diese Öffnung, in die kleine Unregelmäßigkeit, die mir das Leben retten konnte. Ich schob ihn nach innen, so weit er sich schieben ließ. Damit hatte das Rettungsboot nun einen Bugspriet, der über den Wellen vorausragte. Ich machte einen Klimmzug und klammerte mich mit den Beinen daran. Der Stiel drückte die Plane nach oben, doch Plane, Seil und Ruder hielten. Ich war aus dem Wasser, wenn auch nur einen halben, manchmal einen dreiviertel Meter über den tanzenden Wellen. Bei den größeren streifte die Schaumkrone mich nach wie vor.