Über die Außenwelt erfährt das Dreifingerfaultier nicht viel. Auf einer Skala von 2 bis 10, bei der die 2 für außerordentliche Dumpfheit und 10 für extreme Wachheit steht, stufte Beebe (1926) den Tast-, Geschmacks- und Gesichtssinn und das Gehör des Faultiers mit 2 ein, den Geruchssinn mit 3. Trifft man auf freier Wildbahn auf ein schlafendes Dreifingerfaultier, so genügt es in der Regel, es zwei- oder dreimal anzustoßen, um es zu wecken. Es wird sich dann schläfrig in jede erdenkliche Richtung umsehen, nur nicht in die, aus der der Stoß kam. Warum es sich umsieht, weiß man allerdings nicht, denn das Faultier sieht wie MrMagoo alles nur durch einen Nebel. Was das Gehör angeht, ist ein Faultier nicht wirklich taub; es interessiert sich nur nicht für Geräusche. Beebe berichtet, dass er neben schlafenden oder fressenden Faultieren Gewehre abfeuerte und kaum eine Reaktion damit hervorrief. Und den etwas höher entwickelten Geruchssinn eines Faultiers sollte man auch nicht überschätzen. Es heißt, sie könnten abgestorbene Äste riechen und dann meiden, doch Bullock (1968) berichtet, dass Faultiere »häufig« zu Boden fallen, weil sie sich an abgestorbenen Ästen festhalten.
Man fragt sich, wie ein solches Tier überleben kann.
Es überlebt, weil es so langsam ist. Trägheit und Schläfrigkeit schützen es vor allen Gefahren, sie sorgen dafür, dass ein Jaguar oder Ozelot, dass Harpyien und Anakondas das Faultier überhaupt nicht wahrnehmen. Im Pelz des Faultiers gedeiht eine Algenart, die in der Trockenzeit braun und in der Regenzeit grün ist, und so fügt sich das Tier stets in das Moos und Blattwerk seiner Umgebung ein und wirkt wie ein Ameisen- oder Eichhörnchennest oder einfach nur wie ein Teil des Baumes.
Das Dreifingerfaultier lebt ein friedliches Vegetarierleben in vollkommenem Einklang mit seiner Umgebung. »Stets hat es ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen«, schreibt Tirler (1966). Es ist ein Lächeln, das ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ich bin keiner, der leichtfertig menschliche Charakterzüge oder Gefühlsregungen auf Tiere projiziert, doch viele Male, wenn ich in jenem Monat in Brasilien ein ruhendes Faultier betrachtete, hatte ich den Eindruck, dass ich in der Gegenwart eines an den Füßen hängenden, tief in seine Meditation versenkten Jogis war oder eines ganz dem Gebet ergebenen Eremiten, in der Gegenwart von Wesen großer Weisheit, deren inneres Leben jenseits all meiner wissenschaftlichen Forschungen lag.
Manchmal gerieten mir meine beiden Studienfächer durcheinander. Manche meiner Kommilitonen bei den Religionswissenschaftlern - wirrköpfige Agnostiker, die nicht wussten, welche Seite oben war, allesamt der Vernunft ergeben, jenem Katzengold der Intelligenz - erinnerten mich an das Dreifingerfaultier; und das Dreifingerfaultier, ein so perfektes Beispiel für das Wunder des Lebens, erinnerte mich an Gott.
Mit meinen Naturkundekollegen war das Leben leicht. Naturwissenschaftler sind ein freundliches, gottloses, hart arbeitendes, biertrinkendes Volk, dessen Verstand mit Sex, Schach und Baseball beschäftigt ist, wenn er einmal nicht an Wissenschaft denkt.
Ich war, wenn ich mich selbst loben darf, ein ausgezeichneter Student. Vier Jahre hintereinander war ich der Beste am St. Michael's College. Ich errang jede Auszeichnung, die das Zoologische Seminar zu vergeben hatte. Und wenn ich bei den Religionswissenschaftlern keins bekam, dann lag das schlicht und einfach daran, dass dort keine vergeben wurden (jeder weiß, dass der Lohn für solche Studien nicht in irdischer Hand liegt). Ich hätte die Medaille des Generalgouverneurs bekommen, die höchste Ehre, die von der Universität Toronto an Undergraduates vergeben wird - nicht wenige angesehene Kanadier haben sie erhalten -, wäre da nicht ein rotgesichtiger Rindfleischesser mit einem Hals wie ein Baumstamm und einer unerträglich guten Laune gewesen.
Noch heute tut es ein wenig weh, dass ich übergangen wurde. Wenn man viel im Leben gelitten hat, dann ist jeder neue Schmerz entsetzlich und belanglos zugleich. Mein Leben ist wie ein Vanitasstillleben eines alten Niederländers: Ich habe stets einen grinsenden Totenschädel zur Hand, der mich an die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens gemahnt. Ich verspotte diesen Schädel. Ich sehe ihn an und sage: »Da bist du an den Falschen geraten. Du glaubst vielleicht nicht an das Leben, aber ich glaube nicht an den Tod. Mach, dass du weiterkommst.« Der Schädel lacht gehässig und rückt noch ein Stückchen näher, aber das wundert mich nicht. Es ist ja nicht die biologische Notwendigkeit, die den Tod immer die Nähe des Lebens suchen lässt - es ist der Neid. Das Leben ist so schön, dass der Tod sich in es verliebt hat, ein eifersüchtiger, gieriger Liebhaber, der an sich rafft, was er zu fassen bekommt. Aber das Leben macht mühelos den Sprung über das Vergessen, verliert ein Eckchen oder zwei, nichts Wichtiges, und Düsternis ist nichts als der flüchtige Schatten einer Wolke. Der Rotgesichtige bekam auch das Rhodes-Stipendium. Ich trage es ihm nicht nach und ich hoffe, dass er in Oxford glücklich und weise geworden ist. Sollte Lakshmi, die Göttin des Reichtums, mir jemals wohlgesonnen sein, dann ist Oxford die fünfte auf der Liste der Städte, die ich noch besuchen möchte, bevor meine Tage vorüber sind, nach Mekka, Varanasi, Jerusalem und Paris.
Zu meinem Arbeitsleben weiß ich nichts zu sagen, nur dass eine Krawatte eine Schlinge ist, und auch wenn man sie falsch herum um den Hals hat, kann sie einen Mann erwürgen, wenn er nicht Acht gibt.
Kanada liebe ich. Mir fehlen die indische Hitze, das Essen, die Eidechsen an den Wänden, die Musicals im Kino, die Kühe, die durch die Straßen ziehen, das Krächzen der Krähen, sogar die Diskussionen über Cricket - aber Kanada liebe ich. Es ist ein wunderbares Land, wenn auch nach allen vernünftigen Maßstäben viel zu kalt, ein Land bewohnt von aufrechten, klugen Menschen, die alle dringend einen besseren Friseur bräuchten. Und in Pondicherry habe ich nichts, wohin ich zurückkehren könnte.
Richard Parker ist bei mir geblieben. Ich habe ihn nie vergessen. Darf ich sagen, dass ich ihn vermisse? Ich vermisse ihn. In meinen Träumen erscheint er mir noch. Eigentlich sind es Alpträume, aber Alpträume voller Liebe. So etwas gibt es, so seltsam ist das menschliche Herz. Bis heute verstehe ich nicht, wie er mich einfach so verlassen konnte, ohne einen Abschiedsgruß, ja ohne einen Blick zurück. Das ist ein Schmerz wie ein Axthieb nach meinem Herzen.
Die Ärzte und Schwestern im Hospital in Mexiko waren unendlich freundlich zu mir. Auch die anderen Patienten. Krebskranke, Unfallopfer, sobald sie meine Geschichte hörten, kamen auf Krücken und in Rollstühlen herüber, sie wollten mich sehen, mit ihren ganzen Familien, obwohl kein Einziger von ihnen Englisch sprach, und ich sprach kein Spanisch. Sie lächelten mich an, schüttelten mir die Hand, streichelten mir den Kopf, ließen Essen und Kleider als Geschenke auf meinem Bett zurück. Sie rührten mich so sehr, ich lachte und weinte in einem fort, ich konnte nicht anders.
Schon binnen ein paar Tagen konnte ich stehen, sogar ein, zwei Schritte gehen, trotz Schwindel und Übelkeit und meiner großen Erschöpfung. Bluttests ergaben, dass ich anämisch war, mit sehr hohem Natrium und niedrigem Kaliumgehalt im Blut. Wasser sammelte sich in meinem Körper, und die Beine schwollen entsetzlich an. Es sah aus, als hätte mich jemand auf ein Paar Elefantenbeine gestellt. Mein Urin war ein tiefdunkles Gelb, fast schon Braun. Nach einer guten Woche konnte ich schon wieder einigermaßen gehen und konnte Schuhe anziehen, wenn ich sie nicht zuband. Meine Haut wurde heil, auch wenn ich heute noch Narben auf Schultern und Rücken habe.
Das erste Mal, als ich einen Wasserhahn aufdrehte, war das laute, entsetzlich verschwenderische Gurgeln und Sprudeln ein solcher Schock, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und mir in den Armen einer Krankenschwester die Sinne schwanden.