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Besser war man in den Piscines Chäteau-Landon, Rouvet oder Boulevard de la Gare dran. Das waren Hallenbäder, die rund ums Jahr geöffnet hatten. Sie wurden gespeist vom Kondenswasser der Dampfmaschinen der umliegenden Fabriken, das sauberer und wärmer war. Doch auch diese Bäder waren ein wenig unappetitlich und oft überfüllt. »Da war so viel Schleim und Auswurf im Wasser, dass man das Gefühl hatte, man schwimmt zwischen Quallen«, lachte Mamaji.

Die Piscines Hebert, Ledru-Rollin und Butte-aux-Cailles waren helle, moderne, geräumige Bäder, die ihr Wasser aus eigenen Brunnen bezogen. Sie waren der Maßstab, an dem andere städtische Schwimmbäder gemessen wurden. Außerdem gab es natürlich die Piscine des Tourelles, das andere Olympiabad der Stadt, eröffnet 1924, als die Spiele zum zweiten Mal in Paris ausgetragen wurden. Und es gab weitere, viele weitere.

Doch kein anderes Bad konnte es in Mamajis Augen mit dem Glanz der Piscine Molitor aufnehmen. Das war das Nonplusultra der Badekultur von Paris, ja der gesamten zivilisierten Welt.

»Es war ein Schwimmbad für die Götter. Der Schwimmclub des Molitor war der beste in ganz Paris. Es hatte zwei Becken, ein offenes und ein überdachtes. Beide waren so groß wie zwei kleine Ozeane. Beim Innenbecken waren immer zwei Bahnen reserviert, damit Wettkampfschwimmer üben konnten. Das Wasser war so klar und rein, man hätte seinen Kaffee damit kochen können. Rund um das Becken standen hölzerne Umkleidekabinen, blau und weiß auf zwei Etagen. Von oben konnte man hinuntersehen und alles beobachten. Es gab Angestellte, die die Kabinen mit Kreide markierten, zum Zeichen, dass sie besetzt waren, hinkende alte Männer, freundlich auf ihre bärbeißige Art. Selbst das größte Gebrüll, das lauteste Palaver machte ihnen nichts aus. Die Duschen spendeten wunderbar wohl tuendes heißes Wasser. Es gab ein Dampfbad und eine Turnhalle. Im Winter wurde das Außenbecken zur Eisbahn. Es gab eine Bar, eine Cafeteria, eine große Sonnenterrasse, sogar zwei kleine Strände mit echtem Sand. Alles war Messing, Kacheln und Holz, alles blitzblank. Es war - es war ...«

Es war das einzige Schwimmbad, bei dem Mamaji die Worte fehlten, das einzige, wo er in Gedanken so viele Runden schwamm, dass er sie nicht mehr beschreiben konnte.

Mamaji hatte seine Erinnerungen, Vater seine Träume.

So kam ich zu meinem Namen, als ich drei Jahre nach Ravi als letzter, willkommener Spross meiner Familie das Licht der Welt erblickte: Piscine Molitor Patel.

Kapitel 4

Unsere wackere Nation war gerade erst sieben Jahre alt, da bekam sie mit einem weiteren kleinen Territorium Zuwachs. Am 1.November 1954 trat Pondicherry der Indischen Union bei. Dieses große Ereignis musste angemessen gewürdigt werden. Ein Teil des Botanischen Gartens wurde mietfrei für eine grandiose Geschäftsidee zur Verfügung gestellt, und im Handumdrehen hatte Indien einen nagelneuen Zoo, eingerichtet und betrieben nach den modernsten, biologisch fundierten Prinzipien.

Es war ein riesiger Zoo, hektargroß, so weitläufig, dass man eine Eisenbahn brauchte, um ihn zu erkunden - auch wenn er, die Bahn eingeschlossen, immer kleiner wurde, je älter ich wurde. Heute ist er so klein, dass er in meinen Kopf passt. Man muss sich einen heißen, feuchten Ort vorstellen, sonnendurchflutet und in strahlenden Farben. Rund ums Jahr blühen die Blumen. Bäume, Büsche, Schlingpflanzen wuchern - Pipal- oder Bobäume, Flamboyants, rote Ixoren, Wollbäume, Jakarandas, Mangos, Jackbäume und viele andere, von denen man nie wüsste, wie sie heißen, wenn nicht hübsche Schildchen davor stünden. Es gibt Bänke. Auf den Bänken sieht man Männer ausgestreckt liegen und schlafen, oder es sitzen Paare darauf, junge Paare, die sich verstohlene Blicke zuwerfen und deren Hände sich zufällig beim Gestikulieren berühren. Plötzlich bemerkt man zwischen den hohen, schlanken Bäumen zwei Giraffen, die einen in aller Ruhe betrachten. Der Anblick ist nicht die einzige Überraschung. Schon im nächsten Augenblick bricht eine große Affentruppe in ein ohrenbetäubendes Geschnatter aus, das nur noch von den schrillen Schreien fremdartiger Vögel übertönt wird. Man kommt an ein Drehkreuz. Gedankenverloren zahlt man ein kleines Eintrittsgeld. Man geht weiter und kommt an eine niedrige Mauer. Was erwartet man hinter einer niedrigen Mauer? Wohl kaum eine flache Grube mit zwei mächtigen Indischen Nashörnern. Aber genau das findet man. Und wenn man sich dann umdreht, bemerkt man den Elefanten, der schon die ganze Zeit dort gestanden hat, so groß, dass man ihn gar nicht gesehen hat. Und was da im Teich steht, sind Flusspferde. Je länger man hinsieht, desto mehr sieht man. Willkommen in Zootown!

Bevor er nach Pondicherry kam, führte mein Vater ein großes Hotel in Madras. Aber Tiere waren schon immer seine Leidenschaft gewesen, und so kam er zum Zoo. Ein ganz natürlicher Schritt, könnte man denken, vom Hotelier zum Zooleiter. Aber das stimmt nicht. Ein Zoo ist in vielem das, was für den Hotelier der größte Alptraum ist. Man bedenke: Die Gäste verlassen nie das Zimmer; alle erwarten Vollpension; dauernd bekommen sie Besuch, oft laut und ungezogen. Man muss warten, bis sie sich einmal auf den Balkon bequemen, damit man ihr Zimmer sauber machen kann, und dann muss man warten, bis sie genug von der Aussicht haben und ins Zimmer zurückkehren, bevor man den Balkon putzen kann; und sauber gemacht werden muss viel, denn die Gäste sind rücksichtslos wie Säufer. Jeder weiß ganz genau, was er auf der Speisekarte haben will, jeder beklagt sich über den schlechten Service, und kein Einziger gibt jemals Trinkgeld. Um ehrlich zu sein, haben viele auch einen Zug zum Perversen. Entweder sind sie furchtbar gehemmt, und umso vehementer machen sich die unterdrückten Triebe dann von Zeit zu Zeit Luft, oder sie sind unverhohlen lüstern, und in beiden Fällen sorgen die unerhörtesten Sex- und Inzestorgien für Beschwerden am laufenden Band. Sind das etwa die Gäste, die man in seinem Gasthaus haben will? Der Zoo von Pondicherry war ein Quell von ein wenig Freude und weitaus mehr Kopfschmerz für MrSantosh Patel - Gründer, Eigentümer, Direktor, Chef von dreiundfünfzig Angestellten und mein Vater.

Für mich war es das Paradies auf Erden. Ich habe an meine Kindheit im Zoo nur schöne Erinnerungen. Es war ein fürstliches Leben. Welcher Sohn eines Maharadschas hatte einen so prachtvollen Garten, in dem er spielen konnte? Welcher Palast hatte eine solche Menagerie? Mein Wecker in meinen Kinderjahren war ein Löwenrudel. Es war zwar keine Schweizer Uhr, aber man konnte sich darauf verlassen, dass sie sich jeden Morgen zwischen halb sechs und sechs die Seele aus dem Leib brüllten. Das Geschrei der Brüllaffen, die Pfiffe der Beos und das Krächzen der Molukkenkakadus war die Begleitmusik zum Frühstück. Wenn ich zur Schule ging, tat ich das nicht nur unter den wohlwollenden Blicken meiner Mutter, sondern auch dem der blitzäugigen Otter, der stämmigen amerikanischen Bisons und der Orang-Utans, die dazu gähnten und sich streckten. Unter den Bäumen hatte ich immer den Blick nach oben gerichtet, auf der Hut vor Pfauen, die einen bekackten. Besser, man hielt sich an jene Bäume, in denen die großen Kolonien von Flughunden hingen; in dieser frühen Morgenstunde war von ihnen kein anderer Angriff zu befürchten als das wilde Durcheinander ihres Pfeifund Schnatterkonzerts. Auf dem Weg zum Ausgang hielt ich vielleicht noch an den Terrarien und sah mir die glitzernden Frösche an, grasgrün, gelb mit dunklem Blau oder braun und blassgrün. Oder es waren Vögel, die meine Aufmerksamkeit erregten: rosa Flamingos und schwarze Schwäne und Goldhalskasuare, oder etwas Kleineres, Diamanttäubchen, Glanzstare, Inseparables, Nanday- und Goldbauchsittiche. Die Elefanten, die Seehunde, die Tiger und die Bären schliefen um diese Zeit noch, aber Paviane, Makaken, Mangaben, Gibbons, Gazellen, die Tapire, die Lamas, die Giraffen, die Mungos, das waren Frühaufsteher. Und jeden Morgen nahm ich, kurz bevor ich den Zoo durch das Hauptportal verließ, noch ein letztes Bild mit, etwas ganz Alltägliches und doch Unvergessliches: eine Schildkrötenpyramide, die schillernde Schnauze eines Mandrills, das vornehme Schweigen einer Giraffe, das Maul eines gähnenden Flusspferds, ein Ara, der mit Krallen und Schnabel den Drahtzaun emporklettert, das Begrüßungsklappern eines Schuhschnabels, der senile, lüsterne Gesichtsausdruck eines Kamels. All diese Reichtümer konnte ich im Vorbeigehen haben, auf dem Weg in die Schule. Am Nachmittag machte ich dann in Ruhe meine Experimente, wie es war, wenn ein Elefant einem die Kleider absuchte, in der friedlichen Hoffnung, dass er eine versteckte Nuss fand, oder ein Orang-Utan einem die Haare auf der Suche nach einem kleinen Läuseimbiss durchkämmte, das enttäuschte Schnaufen, wenn er einsehen musste, dass auf diesem Kopf nichts zu holen war. Ich wünschte, ich könnte die Vollkommenheit beschreiben, mit der ein Seehund ins Wasser glitt, ein Klammeraffe sich von Ast zu Ast schwang, ein Löwe auch nur seinen Kopf drehte. Doch unsere Sprache scheitert in solcher See. Besser, man malt sich in Gedanken die Bilder aus, wenn man es empfinden möchte.