Выбрать главу

Die Tiere kannten anscheinend keine Furcht. Als ich den Hügel hinunterkam, ergriff keines die Flucht oder zeigte auch nur die kleinste Anspannung darüber, dass ich da war. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich eins berühren, sogar in die Höhe heben können. Aber das tat ichnicht. Ich spazierte einfach mitten hinein in das, was mit Sicherheit die größte Erdmännchenkolonie der Welt war, eines der seltsamsten, aber auch wunderbarsten Erlebnisse meines Lebens. Die Luft war erfüllt von einem unablässigen Geräusch. Es war ihr Quietschen, Zirpen, Schnattern und Schnauben. So groß war ihre Zahl, so vielfältig ihre Erregung, dass es an- und abschwoll wie die Laute eines Vogelschwarms, manchmal ein lautstarkes Schwirren rundum, dann plötzlich leiser, wenn die Erdmännchen, bei denen ich stand, verstummten und dafür andere, weiter fort, losschnatterten.

Hatten sie keine Furcht vor mir, weil ich Furcht vor ihnen haben sollte? Der Gedanke kam mir. Aber die Antwort - dass sie harmlos waren - lag auf der Hand. Um an einen der Teiche zu kommen, um die sie dicht gepackt standen, musste ich einige mit dem Fuß beiseite schieben, damit ich nicht auf sie trat. Sie ließen sich meine Drängelei ohne Grollen gefallen und machten mir Platz wie eine gutmütige Menschenmenge. Ich spürte die warmen, pelzigen Körper an meinen Waden und beugte mich vor zum Teich.

Alle Teiche waren kreisrund und ungefähr gleich groß - etwa zwölf Meter im Durchmesser. Ich hatte erwartet, dass sie flach sein würden, aber ich blickte in tiefes, klares Wasser. Ja, sie schienen sogar unendlich tief. Und soweit ich hinunterblicken konnte, bestanden die Seiten aus grünen Algen. Die Algenschicht auf der Insel musste sehr dick sein.

Ich sah nichts, was die gebannte Aufmerksamkeit der Erdmännchen erklärte, und ich hätte das Rätsel wohl ungelöst gelassen, wäre nicht großes Quietschen und Schnattern an einem Nachbarteich ausgebrochen. Erdmännchen hüpften in sichtlicher Erregung auf und ab. Und plötzlich sprangen sie zu Hunderten in den Teich. Ein großes Gedränge setzte ein, denn die weiter hinten Stehenden wollten nun alle gleichzeitig ans Ufer. Der Drang steckte alle an, und selbst die kleinsten Erdkinder drängelten zum Wasser, von Müttern oder Kindergärtnern gerade noch zurückgehalten. Ich schaute ungläubig zu. Das waren nicht die Erdmännchen, wie man sie aus der Kalahariwüste kannte. Wüsten-Erdmännchen führten sich nicht auf wie Frösche. Was ich hier vor mir hatte, war eindeutig eine eigene Untergattung, die hier ihre ebenso kuriose wie faszinierende Nische gefunden hatte.

Ich ging hinüber zu dem Teich, vorsichtig, damit ich auf keines von ihnen trat, und als ich über die Kante blickte, sah ich Erdmännchen, die darin schwammen - tatsächlich schwammen - und Dutzende von Fischen ans Ufer holten, und zwar nicht nur kleine Fische. Manche waren Doraden, die uns auf dem Rettungsboot als Festmahl gegolten hätten. Sie waren größer als die Erdmännchen. Es war mir unbegreiflich, wie Erdmännchen solche Fische fangen konnten.

Erst als sie mit bemerkenswerter Teamarbeit die Fische an Land hievten, fiel mir etwas auf: Jeder davon, jeder einzelne Fisch, war tot. Noch nicht lange, aber eindeutig tot. Die Erdmännchen bargen Fische, die sie nicht selbst gefangen hatten.

Ich kniete mich ans Ufer, wozu ich einige nasse, aufgeregte Erdmännchen beiseite schieben musste. Ich tauchte die Hand ins Wasser. Es war kälter als ich erwartet hatte. Eine Strömung brachte kühles Wasser von unten herauf. Ich schöpfte ein wenig Wasser mit der Hand und führte sie an den Mund. Ich probierte.

Es war Süßwasser. Das erklärte, woran die Fische gestorben waren - denn jeder Salzwasserfisch, der ins Süßwasser kommt, quillt binnen kurzem auf und stirbt. Aber was taten denn Meeresfische in diesem Teich? Wie kamen sie dorthin?

Ich bahnte mir einen Weg durch die Erdmännchen zu einem weiteren Teich. Auch er enthielt Süßwasser. Genau wie der nächste. Und der vierte ebenfalls.

Sämtliche Teiche waren voll mit Süßwasser. Doch woher kam all dieses Wasser, fragte ich mich. Die Antwort lag auf der Hand: von den Algen. Die Algen entzogen dem Meerwasser beständig auf natürlichem Wege das Salz, deswegen waren sie im Inneren salzig und außen mit Süßwasser benetzt: Sie schwitzten sozusagen das Süßwasser aus. Ich fragte mich nicht, warum die Algen das taten oder wie sie es taten oder was mit dem Salz geschah. Solche Fragen stellte mein Verstand einfach nicht mehr. Ich lachte nur darüber und sprang in einen Teich. Ich konnte mich nur mit Mühe an der Wasseroberfläche halten; ich war noch immer sehr schwach und hatte keine Fettpolster, die für Auftrieb gesorgt hätten. Ich hielt mich am Ufer des Teiches fest. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, so ein Bad in klarem, sauberem, salzfreiem Wasser. Nach der langen Zeit auf dem Meer war meine Haut wie Leder, und die Haare waren lang, verfilzt und klebrig wie ein Fliegenfänger. Mir war, als hätte das Salz sogar meine Seele zerfressen. So genoss ich mein Bad unter den Blicken von tausend Erdmännchen und wartete, bis das Süßwasser mich von allem, was an mir klebte, gereinigt hatte.

Die Erdmännchen wandten den Blick ab. Sie drehten sich wie auf Kommando alle zum gleichen Zeitpunkt in die gleiche Richtung. Ich stieg aus dem Wasser, um zu sehen, was geschah. Es war Richard Parker. Er bestätigte meine Vermutung, dass diese Erdmännchen schon seit so vielen Generationen ohne natürliche Feinde lebten, dass jede Vorstellung von Fluchtabstand, überhaupt von Flucht oder Angst aus ihren Erbanlagen getilgt war. Richard Parker schritt durch die Menge und hinterließ eine Spur von Mord und Gewalt. Er verschlang ein Erdmännchen nach dem anderen, das Blut troff ihm aus dem Maul, und seine Opfer, Auge in Auge mit einem wilden Tiger, hüpften auf der Stelle, als wollten sie rufen »Ich bin dran! Ich bin dran! Ich bin dran!« Solche Szenen sollte ich immer wieder sehen. Nichts konnte die Erdmännchen aus ihrem gewohnten Leben reißen, das sie mit In-den-Teich-Starren und Algenknabbern verbrachten. Ob Richard Parker sich formvollendet anschlich, wie es sich für einen Tiger gehört, bevor er mit donnerndem Gebrüll über sie herfiel, oder ob er nur gleichgültig angeschlendert kam, für die Erdmännchen machte es keinen Unterschied. Sie waren nicht aus der Ruhe zu bringen und ließen sich alles gefallen.

Er tötete mehr, als er brauchte. Er tötete Erdmännchen, die er nicht fraß. Bei Tieren ist der Trieb zum Töten unabhängig vom Hunger. Nachdem ihm so lange kein Beutetier begegnet war, war nun, wo plötzlich so viele auf einmal zu haben waren, sein aufgestauter Jagdtrieb nicht zu bremsen.

Er war weit weg. Ich war nicht in Gefahr. Zumindest für den Augenblick.

Am nächsten Morgen, nachdem er verschwunden war, reinigte ich das Rettungsboot. Es war dringend nötig. Ich will mir die Beschreibung dieser Ansammlung von Menschen- und Tierskeletten, umgeben von den Überresten zahlloser Fische und Schildkröten, ersparen. Ich warf die ganze stinkende, ekelhafte Masse über Bord. Da ich nicht wagte, den Boden des Bootes zu betreten, aus Angst, Richard Parker könne Spuren meines Eindringens finden, musste ich alles mit dem Fischhaken von der Plane aus oder im Wasser stehend von der Seite erledigen. Gerüche und Flecken - gegen die der Fischhaken nichts nützte - spülte ich mit Eimern voll Meerwasser ab.

Am Abend bezog er kommentarlos sein neues, sauberes Quartier. Im Maul hatte er eine Reihe von toten Erdmännchen, die er im Laufe der Nacht verspeiste.

Ich verbrachte die folgenden Tage mit Essen und Trinken und Baden, beobachtete die Erdmännchen, machte Spaziergänge und Dauerläufe, ruhte mich aus und sammelte neue Kräfte. Wenn ich lief, bewegte ich mich geschmeidig und locker, und das Laufen versetzte mich in eine euphorische Stimmung. Meine Haut heilte. Die Schmerzen und Beschwerden verschwanden. Kurz gesagt: ich kehrte ins Leben zurück.

Ich erkundete die Insel. Eigentlich wollte ich sie umrunden, doch den Versuch gab ich auf. Ihren Durchmesser würde ich auf zehn bis elf Kilometer schätzen, und daraus ergab sich ein Umfang von rund dreißig Kilometern. So weit ich sah, war das Ufer überall gleich. Überall das gleiche, intensive Grün, der gleiche Höhenzug, der zum Ufer hin abfiel, und als Unterbrechung der Monotonie hie und da ein zerzauster Baum. Bei der Erkundung des Ufers machte ich eine außergewöhnliche Beobachtung: Je nach Wetter waren die Algen, und folglich die Insel selbst, unterschiedlich dicht und hoch. An sehr heißen Tagen war das Algengeflecht fest und dicht, die Insel wurde höher und der Aufstieg zur Mitte hin steiler. Die Veränderung ging langsam vonstatten und begann erst nach mehreren heißen Tagen hintereinander. Aber sie war unübersehbar. Ich glaube, sie hatte etwas mit dem Wasserhaushalt zu tun, damit, dass dann ein geringerer Teil der Algenoberfläche den Sonnenstrahlen ausgesetzt war.