Das umgekehrte Phänomen - dass die Insel schlaffer wurde - stellte sich schneller ein, es war dramatischer anzusehen und leichter zu erklären. Zu solchen Zeiten senkte sich der Hügel, und der Kontinentalschelf, wenn wir ihn so nennen wollen, war weniger steil; am Ufer wurde die Alge so schlaff, dass ich mit den Füßen darin hängen blieb. Dieses Abschlaffen wurde von trübem Wetter verursacht und noch schneller von stürmischer See.
Einmal erlebte ich auf der Insel einen größeren Sturm, und nach den Erfahrungen dabei würde ich vermuten, dass sie auch dem schlimmsten Hurrikan standhält. Es war ein atemberaubendes Schauspiel. Ich saß in einem Baum und sah zu, wie gewaltige Wellen auf die Insel einstürmten, offenbar im Begriff, über die Uferkante zu schlagen und alles niederzuwalzen - und konnte mit ansehen, wie jede einzelne davon verschwand, als sei sie auf Treibsand gekommen. Das hatte die Insel mit Gandhi gemein: sie widerstand, indem sie keinen Widerstand leistete. Jede Welle wurde lautlos von der Insel aufgefangen, und nur ein wenig Schaum blieb zurück. Ein Beben im Boden und ein leichtes Schwappen der Teichoberflächen waren das einzige Zeichen, was für eine Kraft durch die Insel hindurchging. Und hindurch ging sie tatsächlich: auf der Windschattenseite traten, deutlich gedämpft, Wellen wieder aus und zogen ihres Weges. Es war ein äußerst kurioser Anblick, Wellen, die vom Ufer fortzogen. Der Sturm und die kleinen Erdbeben, die er mit sich brachte, erschütterte die Erdmännchen nicht im Geringsten. Sie gingen ihren Geschäften nach, als existierten die Elemente gar nicht.
Noch unverständlicher war, wie karg die Insel war. Noch nie war mir ein dermaßen reduziertes Ökosystem begegnet. In der Luft gab es keine Fliegen, keine Schmetterlinge, keine Bienen, überhaupt keine Insekten. Kein Vogel sang in den Bäumen. In der Ebene gab es keinen Nager, keine Made, keinen Wurm; keine Schlange und kein Skorpion verbarg sich dort, kein anderer Baum wuchs, kein Busch, keine Gräser, keine Blumen. In den Teichen lebten keine Süßwasserfische. Am Ufer gab es weder Tang noch Krabben noch Krebse, keine Kiesel, keine Korallen, keine Felsen. Mit der einen, allerdings großen Ausnahme der Erdmännchen gab es keine einzige andere Materie auf der Insel, ob organisch oder anorganisch. Sie bestand aus nichts als leuchtend grünen Algen mit leuchtend grünen Bäumen darauf.
Parasiten waren die Bäume nicht. Das stellte ich fest, als ich einmal unter einem jungen Baum saß und so viel Algen aß, dass ich seine Wurzeln freilegte. Ich sah, dass die Wurzeln nicht als eigenständige Gebilde in die Algen hineinwuchsen, sondern aus diesen heraus, dass sie eins mit ihnen waren. Es musste also entweder eine symbiotische Beziehung zwischen Baum und Alge sein, bei der beide zu beider Vorteil gaben und nahmen, oder, einfacher noch, der Baum war schlichtweg Bestandteil der Alge. Ich würde vermuten, dass es Letzteres war, denn die Bäume trugen anscheinend keine Blüten oder Früchte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein eigenständiger Organismus, auch wenn er sich auf eine noch so enge Symbiose einlässt, einen so entscheidenden Teil des Lebens wie die Fortpflanzung aufgeben würde. Die Blätter liebten das Sonnenlicht, sonst wären sie nicht so reichlich, so groß und so chlorophyllgrün gewesen, und daraus schließe ich, dass sie hauptsächlich zur Energiegewinnung da waren. Aber das ist Vermutung.
Eine letzte Beobachtung möchte ich noch anfügen. Sie beruht eher auf Intuition als auf echten Beweisen. Und zwar bin ich der Ansicht, dass die Insel gar keine Insel im herkömmlichen Sinne des Wortes war - keine Landmasse, die fest mit dem Ozeanboden verbunden ist -, sondern eher ein schwimmender Organismus, ein Algenknäuel von gigantischen Ausmaßen. Ich würde auch vermuten, dass die Teiche bis auf die Unterseite dieser gewaltigen schwimmenden Masse reichten und mit dem Meer in Verbindung standen, denn anders ist die Gegenwart von Doraden und anderen Hochseefischen nicht zu erklären.
All das wäre weitere Untersuchung wert, aber leider habe ich die Algen, die ich mitnahm, verloren.
Genau wie ich erwachte auch Richard Parker zu neuem Leben. So wie er sich mit Erdmännchen vollstopfte, setzte er bald wieder Fleisch an, sein Fell glänzte von neuem, und schließlich sah er wieder genauso gesund aus wie zu Anfang unserer Reise. Er blieb seiner Gewohnheit treu und kehrte am Ende jedes Tages zum Rettungsboot zurück. Ich achtete immer darauf, dass ich vor ihm dort war, und markierte mein Revier reichlich mit Urin, damit auch klar war, wer von uns welchen Rang hatte und was wem gehörte. Aber er verließ das Boot immer schon im ersten Morgenlicht und machte weitaus größere Ausflüge als ich; da die Insel ja überall gleich aussah, blieb ich meistens, wo ich war. Den Tag über sah ich ihn nur selten. Und ich machte mir Sorgen. Ich sah, wie er mit den Vorderpranken an den Bäumen kratzte - tiefe Furchen in den Stämmen. Ich hörte sein heiseres Brüllen, den Aaonh-Schrei, so mächtig wie Gold und Honig, so angsteinflößend wie der Schacht einer brüchigen Mine oder tausend wütende Bienen. Dass er auf der Suche nach einer Gefährtin war, beunruhigte mich nicht als solches; aber es bedeutete, dass er sich auf der Insel wohl genug fühlte, dass er an Nachwuchs dachte. Der Gedanke beschäftigte mich, dass er in dieser Stimmung wohl keinen anderen männlichen Tiger in seinem Territorium dulden würde, schon gar nicht nachts und schon gar nicht wenn seine Rufe unbeantwortet blieben, wie es mit Sicherheit geschehen würde.
Einmal machte ich einen Spaziergang im Wald. Ich ging recht schnell und war ganz in Gedanken. Ich kam an einem Baum vorbei - und wäre beinahe mit Richard Parker zusammengestoßen. Wir waren beide erschrocken. Er fauchte und stellte sich drohend auf die Hinterbeine, die riesigen Pranken zum Schlag erhoben. Ich stand wie angewurzelt, gelähmt vor Angst und Entsetzen. Er ließ sich wieder auf alle viere fallen und entfernte sich. Nach drei, vier Schritten, drehte er sich um und richtete sich erneut auf, diesmal begleitet von Knurren. Ich stand noch immer reglos wie eine Statue. Er machte erneut ein paar Schritte und wiederholte die Drohgebärde ein drittes Mal. Als er sicher war, dass ich ihm nicht gefährlich werden konnte, machte er sich davon. Sobald ich wieder Luft bekam und nicht mehr zitterte, setzte ich die Trillerpfeife an die Lippen und stürmte hinterher. Er hatte schon ein gutes Stück Vorsprung, war aber noch in Sichtweite. Ich rannte schnell. Er drehte sich um, sah mich, duckte sich - und ergriff die Flucht. Ich pfiff so laut ich konnte und hoffte, dass das Geräusch ebenso weit im Umkreis zu hören war wie der Schrei eines einsamen Tigers.
In der Nacht, als er wieder einen halben Meter unter mir lag, beschloss ich, dass ich noch einmal in die Manege steigen musste.
Die größte Schwierigkeit bei der Dressur ist, dass Tiere entweder instinktiv handeln oder gewohnheitsmäßig. Die Möglichkeit, auf dem kurzen Weg über die Intelligenz neue, nicht angeborene Verbindungen zu schaffen, ist nur im Ansatz vorhanden. Daher kann man einem Tier nur durch endlose, nervenaufreibende Wiederholungen beibringen, dass ein bestimmtes Verhalten - das Wälzen am Boden zum Beispiel — eine Belohnung nach sich zieht. Es ist ein mühsamer, langwieriger Prozess, der ebenso viel Glück wie harte Arbeit braucht, erst recht, wenn es sich um ein erwachsenes Tier handelt. Ich blies in die Trillerpfeife, bis meine Lungen schmerzten. Ich schlug mir an die Brust, bis sie mit blauen Flecken übersät war. Ich rief »Hep! Hep! Hep!«, mein Wort in der Tigersprache für »Los!« — viele tausendmal. Ich warf ihm Hunderte von Fleischstückchen hin, Fleischstückchen, die ich liebend gern selbst gegessen hätte. Eine Tigerdressur ist keine leichte Aufgabe. Tiger sind geistig längst nicht so beweglich wie andere Tiere, die gern im Zirkus oder Zoo dressiert werden - Seelöwen und Schimpansen beispielsweise. Aber ich will mich nicht zu sehr mit meinen Erfolgen bei Richard Parker brüsten. Ein glückliches Schicksal, dem ich auch mein Leben verdanke, wollte es, dass er nicht nur noch recht jung war, sondern dazu sehr gefügig, ein Omegatier. Ich machte mir Sorgen, dass die Verhältnisse auf der Insel das Blatt gegen mich wenden könnten - dass er angesichts eines solchen Überangebots an Nahrung, Wasser und Raum entspannt und selbstbewusst werden könnte, weniger leicht zu beeinflussen. Aber er blieb nervös. Ich kannte ihn gut genug, um das zu spüren. Nachts im Rettungsboot war er unruhig und reizbar. Ich schrieb seine Anspannung der neuen Umgebung auf der Insel zu; jede Veränderung, auch zum Positiven, macht ein Tier nervös. Was immer die Ursache sein mochte, die Anspannung, unter der er stand, bedeutete, dass er auch weiterhin bereit war, meinen Wünschen nachzukommen, ja dass er es sogar für notwendig hielt.