Выбрать главу

Ich brachte ihm bei, durch einen Reifen zu springen, den ich aus dünnen Zweigen gebastelt hatte. Es war eine einfache Folge von vier Sprüngen. Für jeden bekam er einen Bissen Erdmännchen. Wenn er auf mich zugetrabt kam, hielt ich den Reifen zuerst in der ausgestreckten linken Hand, etwa einen Meter über dem Boden. Sobald er hindurchgesprungen war und langsamer wurde, nahm ich den Reifen in die rechte Hand und befahl ihm zurückzukommen und erneut durch den Reifen zu springen; dabei wandte ich ihm jetzt den Rücken zu. Für den dritten Sprung kniete ich mich auf den Boden und hielt mir den Reifen über den Kopf. Es war ein entsetzliches Gefühl, wenn ich ihn so auf mich zukommen sah. Ich lebte in ständiger Furcht, dass er mich angreifen könnte statt zu springen. Zum Glück sprang er jedes Mal. Danach stand ich auf und gab dem Reifen einen Schubs, sodass er rollte wie ein Rad. Richard Parker sollte hinterherlaufen und noch einmal hindurchspringen, bevor der Reifen zu Boden fiel. Er war nie sonderlich erfolgreich bei diesem letzten Teil, entweder weil ich den Reifen nicht ordentlich warf oder weil er ungeschickt dagegenlief. Immerhin folgte er ihm, und das bedeutete, dass er sich von mir entfernte. Er war jedes Mal erstaunt, wenn der Reifen umfiel. Er musterte ihn ausgiebig, als sei er ein anderes Tier, mit dem er um die Wette gelaufen und das plötzlich zusammengebrochen war. Er blieb in der Nähe und beschnüffelte den Reifen. Dann warf ich ihm seinen letzten Leckerbissen zu und zog mich zurück.

Schließlich suchte ich mir einen Platz außerhalb des Boots. Ich sah nicht ein, warum ich meine Nächte auf so engem Raum mit einem Tier verbringen sollte, das immer mehr Platz beanspruchte, wo ich doch eine ganze Insel für mich hatte. Allerdings konnte ich es nur riskieren, wenn ich auf einem Baum schlief. Richard Parker verbrachte zwar seine Nächte an Bord, aber ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass es eine unumstößliche Gewohnheit war. Und wenn er sich zu einem nächtlichen Spaziergang entschloss und mich am Boden schlafend, wehrlos außerhalb meines Reviers vorfand, würde mir das nicht gut bekommen.

So machte ich mich denn eines Tages mit dem Packnetz, einem Seil und einigen Decken auf den Weg. Ich suchte mir einen hübschen Baum am Waldrand und warf das Seil über den untersten Ast. Inzwischen waren meine Kräfte schon so gut zurückgekehrt, dass ich ohne Mühe an diesem Seil hinaufkletterte. Ich fand zwei kräftige Äste, die auf einer Höhe und nahe genug beieinander lagen, und band das Netz daran fest. Am Ende des Tages kehrte ich zurück. Ich hatte eben die Decken gefaltet, die mir als Lager dienen sollten, als mir eine Unruhe unter den Erdmännchen auffiel. Ich sah nach. Ich schob ein paar Zweige beiseite, damit ich besser sehen konnte, und suchte alle Richtungen ab, bis an den Horizont. Es war unmissverständlich: Die Erdmännchen verließen die Teiche — ja, die ganze Ebene - und liefen in Windeseile zum Wald. Ein ganzes Erdmännchenvolk auf der Flucht, mit gekrümmten Rücken und flitzenden Füßen. Ich fragte mich noch, welche Überraschung diese Tiere nun wieder für mich parat haben mochten, da sah ich, dass diejenigen vom nächstgelegenen Teich sich um meinen Baum geschart hatten und den Stamm heraufgeklettert kamen. Es war ein solcher Ansturm eifriger Erdmännchen, dass der Baumstamm schon ganz unter ihnen verschwunden war. Zuerst dachte ich, sie wollten mich angreifen; ich dachte, das sei die Erklärung dafür, dass Richard Parker auf dem Boot schlief: Tagsüber waren die Erdmännchen freundlich und harmlos, doch in der Nacht kamen sie und erdrückten ihre Feinde erbarmungslos mit ihrem kollektiven Gewicht. Angst packte mich, aber auch etwas wie Empörung. Ich hatte so vieles in einem Rettungsboot auf dem Ozean überlebt, mit einem 450 Pfund schweren Königstiger an Bord, und nun sollte ich auf einem Baum und durch die Pfoten von zwei Pfund schweren Erdmännchen sterben - das war nicht nur tragisch, es war dermaßen lächerlich, dass es nicht auszuhalten war.

Sie wollten mir nichts Böses. Sie kamen zu mir heraufgeklettert, setzten sich neben mich, auf michund kletterten weiter. Sie stiegen in den Baum, bis jeder Ast dicht besetzt war. Der Baum bog sich unter ihrem Gewicht. Auch mein Bett übernahmen sie. Und so ging es überall, so weit das Auge reichte. Sie stiegen auf jeden Baum in Sicht. Der ganze Wald wurde braun, wie ein Herbst, der binnen Minuten hereinbricht. Alle zusammen, wie sie in großen Scharen vorbeigestürmt kamen, um unbesetzte Bäume tiefer im Wald zu erobern, machten mehr Lärm als eine Elefantenherde in wilder Panik.

Die Ebene lag leer und verlassen da.

Von der Koje, die ich mit einem Tiger teilte, zum entschieden überbelegten Schlafsaal der Erdmännchen - wer würde mir da widersprechen, wenn ich sage, dass das Leben schon manche Überraschung parat hält? Ich musste mit Erdmännchen rangeln, damit ich einen Platz in meinem eigenen Bett bekam. Rundum kuschelten sie sich an mich. Kein Daumenbreit blieb frei.

Sie richteten sich ein, und das Quietschen und Zirpen verstummte. Stille kehrte ein im Baum. Wir schliefen.

In der Morgendämmerung erwachte ich und fand mich unter einer lebendigen Pelzdecke. Ein paar Erdmännchenkinder hatten die wärmeren Stellen meines Körpers entdeckt. Mir war heiß von dem dichten Fellkragen um meinen Hals - und was sich so wohlig an meine Schläfe kuschelte, musste dann wohl die Mutter sein -, und andere hatten es sich zwischen meinen Beinen bequem gemacht.

Ebenso rasch und ohne Umschweife, wie sie ihn erobert hatten, verließen sie den Baum wieder. Und genauso ging es bei sämtlichen anderen Bäumen weit und breit. Die Ebene war zusehends von Erdmännchen bevölkert, und die Luft füllte sich mit den Geräuschen ihres neuen Tags. Der Baum sah verlassen aus. Und ich fühlte mich auch ein wenig verlassen. Es war schön gewesen, bei den Erdmännchen zu schlafen.

Von da an schlief ich jede Nacht in dem Baum. Ich nahm ein paar nützliche Dinge aus dem Boot mit und richtete mir ein hübsches Baumhaus ein. Ich gewöhnte mich an die Kratzer, die mir die Erdmännchen oft unabsichtlich zufügten, wenn sie über mich kletterten. Meine einzige Beschwerde wäre, dass diejenigen, die weiter oben im Baum saßen, mich manchmal bekackten.

Eines Nachts weckten mich die Erdmännchen. Sie schnatterten und waren in heller Aufregung. Ich setzte mich auf und schaute in die Richtung, in die sie blickten. Der Himmel war wolkenlos, und es herrschte Vollmond. Sämtliche Farbe war aus der Landschaft gewichen. Alles schimmerte in geheimnisvollen Schwarz-, Grau- und Weißtönen. Es war der Teich. Darin bewegten sich silberne Formen, sie tauchten auf und durchbrachen die schwarze Oberfläche des Wassers.