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Fische. Tote Fische. Sie kamen aus der Tiefe an die Oberfläche. Der Teich - sein Durchmesser betrug, wie gesagt, immerhin zwölf Meter - füllte sich mit toten Fischen, bis die Oberfläche nicht mehr schwarz, sondern silbern war. Und da das Wasser nicht zur Ruhe kam, mussten wohl immer noch mehr tote Fische nachkommen.

Als schließlich ein toter Hai lautlos aus der Tiefe auftauchte, waren die Erdmännchen außer sich vor Erregung und machten einen Lärm wie tropische Vögel. Die Hysterie griff auch auf die benachbarten Bäume über. Es war ohrenbetäubend. Ich fragte mich, ob ich wohl gleich mit ansehen würde, wie sie die Fische auf die Bäume holten.

Aber kein einziges Erdmännchen kletterte hinunter zum Teich. Sie zeigten keinerlei Anstalten dazu. Sie machten nur lauthals ihrer Enttäuschung Luft.

Mir war der Anblick von so vielen toten Fischen unheimlich. Sinister.

Ich legte mich wieder hin und versuchte trotz allem Erdmännchengezeter wieder einzuschlafen. Beim ersten Tageslicht wurde ich aus dem Schlaf gerissen von dem Tumult, den sie veranstalteten, als sie alle gleichzeitig den Baum verließen. Ich gähnte und streckte mich und sah hinunter zu dem Teich, der in der Nacht für so viel Aufregung gesorgt hatte.

Er war leer. Zumindest beinahe. Aber es war nicht das Werk der Erdmännchen. Die schickten sich eben erst an, die Reste herauszufischen.

Die Fische waren verschwunden. Nun war ich vollends verblüfft. War es der falsche Teich? Nein, es war eindeutig der, den ich in der Nacht gesehen hatte. War ich sicher, dass nicht die Erdmännchen ihn leergefischt hatten? Ja, vollkommen sicher. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie einen ganzen Hai aus dem Wasser gezogen und auf ihren Rücken abtransportiert hatten. Und Richard Parker? Dem hätte ich es zugetraut, aber nicht einen ganzen Teich in einer einzigen Nacht.

Es war ein völliges Rätsel. So sehr ich auch in den Teich und auf seine grünen Flanken starrte, es gab keine Erklärung, was mit den Fischen passiert war. In der nächsten Nacht blieb ich wach, aber es tauchten keine neuen Fische auf.

Die Lösung des Rätsels fand ich einige Zeit später, tief im Wald.

In der Mitte des Waldes waren die Bäume höher und standen dicht beieinander. Darunter wuchs nichts, denn es gab keinerlei Unterholz, oben aber war das Blätterdach so dicht, dass der Himmel nicht zu sehen war, oder, um es anders auszudrücken, der Himmel war einfarbig grün. Der Abstand zwischen den Bäumen war so gering, dass ihre Äste sich berührten; sie wuchsen ineinander und bildeten ein dichtes Geflecht, sodass man kaum noch sagen konnte, wo ein Baum endete und der nächste begann. Mir fiel auf, dass sie glatte, unversehrte Stämme hatten, ohne die vielen winzigen Kratzspuren, die die Erdmännchen sonst auf der Rinde hinterließen. Ich erriet schnell, warum das so war: Die Erdmännchen mussten hier nicht hinauf- oder hinunterklettern, wenn sie von einem Baum zum anderen gelangen wollten. Den Beweis lieferten zahlreiche Bäume am äußeren Rand des dichten Waldes, deren Rinde in Fetzen herabhing. Diese Bäume dienten also als Eingangstore zu einer Baumstadt der Erdmännchen, in der es hektischer zuging als in Kalkutta.

Und dort fand ich den Baum. Es war weder der größte im Wald noch lag er genau in der Mitte, und er war auch sonst nicht bemerkenswert. Er hatte gute, waagerechte Äste, mehr nicht. Ein idealer Baum für jemanden, der den Himmel ansehen oder das nächtliche Treiben der Erdmännchen beobachten wollte.

Ich weiß noch genau, an welchem Tag ich diesen Baum entdeckte: es war der Tag, bevor ich die Insel verließ.

Der Baum fiel mir auf, weil er anscheinend Früchte trug. Wo ansonsten das Blätterdach gleichförmig grün war, hoben sich diese Früchte schwarz ab. Die Zweige, an denen sie hingen, waren in seltsamen Formen gewunden. Ich sah mich genauer um. Eine ganze Insel voller Bäume, die keine Frucht trugen - bis auf diesen einen. Und auch dieser nicht einmal ganz. Die Früchte konzentrierten sich auf eine einzige Stelle des Baums. Vielleicht war er unter den Bäumen eine Art Bienenkönigin; ich fragte mich, welche Überraschungen die eigentümliche Biologie dieser Algen wohl noch für mich bereit halten mochte.

Ich hätte gern eine Frucht probiert, aber sie hingen zu weit oben. Ich ging ein Seil holen. Wenn die Algen schon so gut schmeckten, wie würden dann erst ihre Früchte sein?

Ich schlang das Seil um den untersten Ast und zog mich hinauf, und von da drang ich Ast um Ast, Zweig um Zweig zu dem kleinen geheimnisvollen Obstgarten vor.

Von nahem betrachtet, waren die Früchte dunkelgrün. In Form und Größe ähnelten sie Orangen. Jede war von einem Geflecht von Zweigen umgeben, die bis ganz an sie heranreichten - als Schutz, nahm ich an. Als ich näher kam, sah ich, dass diese Zweige die Frucht auch hielten. Sie hing nicht an einem einzelnen Stiel, sondern an Dutzenden. Die Oberfläche war übersät mit Stängeln, die sie mit den umgebenden Zweigen verbanden. Früchte, die so viel Verankerung brauchten, waren mit Sicherheit schwer und saftig. Ich kam oben an.

Ich fasste eine Frucht und wog sie in der Hand. Ich war enttäuscht, wie leicht sie war. Sie wog so gut wie nichts. Ich zog daran und pflückte sie von all ihren Stängeln.

Ich machte es mir auf einem kräftigen Ast bequem, den Rücken an den Baumstamm gelehnt, über mir ein grünes Blätterdach, das sich im Winde wiegte und einzelne Sonnenstrahlen einließ. Rundum erstreckten sich, so weit das Auge reichte, die vielfach gewundenen Straßen der großen Baumstadt. Ein angenehmes Lüftchen wehte. Gespannt wandte ich mich der Frucht zu und untersuchte sie.

Ach, hätte es doch diesen Augenblick nie gegeben! Ohne ihn hätte ich noch jahrelang - ja, für den Rest meines Lebens - auf dieser Insel bleiben können. Nie hätte ich gedacht, dass etwas mich zurück aufs Rettungsboot treiben würde, zu dem Leid und der Entbehrung, die ich darauf erlebt hatte - nichts auf der Welt! Was sollte ich denn für einen Grund haben, die Insel zu verlassen? War nicht für all meine körperlichen Bedürfnisse gesorgt? Gab es nicht mehr Süßwasser als ich in meinem ganzen Leben trinken konnte? Mehr Algen als ich essen konnte? Und hatte ich nicht, wenn mir nach Abwechslung war, Erdmännchen und Fisch, so viel das Herz begehrte? Wenn es eine schwimmende Insel war, schwamm sie dann nicht womöglich sogar in meine Richtung? Brachte mich nicht vielleicht am Ende mein grünes Schiff sogar an Land? Und hatte ich nicht die sympathischen Erdmännchen, die mir bis dahin Gesellschaft leisteten? Hatte ich nicht Richard Parker, der noch viel üben musste, bis er den vierten Sprung beherrschte? Nicht ein einziges Mal seit meiner Ankunft war ich auf den Gedanken gekommen, dass ich wieder abfahren sollte. Ich war nun schon seit vielen Wochen dort - seit wie vielen hätte ich nicht sagen können -, und es würde immer so weitergehen. Das stand fest.

Wie sehr sollte ich mich täuschen.

Wenn in dieser Frucht ein Samenkorn war, dann war es der Same meiner neuerlichen Seefahrt.

Die Frucht war gar keine Frucht. Sie war eine dicke Kugel aus dicht gepackten Blättern. Jeder unter den Dutzenden von Stängeln war ein Blattstängel. Und mit jedem, den ich zog, löste sich ein Blatt.

Nach ein paar Schichten kam ich an Blätter, die ihre Stiele verloren hatten und die flach aneinander zur Kugel verklebt waren. Ich fasste sie mit den Fingernägeln und zog sie ab. Schicht um Schicht löste ich, wie die Häute einer Zwiebel. Ich hätte die »Frucht« auch einfach auseinanderrupfen können - ich sage weiterhin Frucht, weil ich nicht weiß, wie ich sie sonst nennen sollte -, aber gar zu sehr wollte ich meiner Neugier doch nicht nachgeben.

Von der Apfelsinen- schrumpfte sie zur Mandarinengröße. Mein Schoß und die Zweige unter mir waren mit den dünnen, weichen Blattschichten bedeckt.

Jetzt war sie nur noch so groß wie eine Pflaume.

Noch heute läuft es mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich daran denke.

So groß wie eine Kirsche.