Und dann kam sie ans Licht, die unaussprechliche Perle im Herzen dieser grünen Auster.
Der Zahn eines Menschen.
Ein Backenzahn, um genau zu sein. Die Oberfläche grün gefärbt und fein durchlöchert.
Das Entsetzen stellte sich erst nach und nach ein. Es blieb Zeit genug, weitere Früchte zu pflücken.
In jeder einzelnen davon war ein Zahn.
Der eine ein Eckzahn.
Der nächste ein Vorderzahn.
Hier ein Schneidezahn.
Dort ein weiterer Backenzahn.
Zweiunddreißig Zähne. Das komplette Gebiss eines Menschen. Nicht ein einziger fehlte.
Allmählich dämmerte es mir.
Aufgeschrien habe ich nicht. Ich glaube, Schreckensschreie gibt es nur in Filmen. Mich überlief nur ein Schaudern, und dann machte ich mich an den Abstieg.
Es folgte ein Tag voller Qualen, an dem ich die Möglichkeiten abwog, die ich hatte. Sie waren allesamt schlecht.
In der Nacht, als ich wieder in meiner Matte im gewohnten Baum lag, prüfte ich, ob meine Schlussfolgerung stimmte. Ich griff mir ein Erdmännchen und ließ es in die Tiefe fallen.
Quiekend ging es zu Boden. Unten angekommen, lief es sofort wieder zum Baum.
Mit typischer Treuherzigkeit kehrte es an seinen Platz neben mir zurück. Dort leckte es eifrig an seinen Pfoten. Es schien in Panik. Es keuchte heftig.
Das hätte als Beweis genügt. Aber ich wollte es selbst erfahren. Ich kletterte nach unten und ließ mich am Seil herab. Ich hatte es mit Knoten versehen, damit das Klettern leichter wurde. Als ich ans untere Ende kam, hielt ich inne, die Füße ein paar Zentimeter über dem Boden. Ich zögerte.
Dann ließ ich los.
Anfangs spürte ich nichts. Plötzlich durchzuckte ein brennender Schmerz meine Füße. Ich schrie auf. Beinahe wäre ich gestürzt. Es gelang mir, das Seil zu packen und mich daran hochzuziehen, bis ich den Boden nicht mehr berührte. Wie von Sinnen rieb ich die Fußsohlen an dem Baumstamm. Es half, aber es war nicht genug. Ich kletterte zurück auf meinen Ast. Ich tauchte meine Füße in den Eimer mit Wasser neben meinem Bett. Ich rieb meine Füße mit Blättern ab. Ich nahm das Messer, tötete zwei Erdmännchen und versuchte, den Schmerz mit ihrem Blut und ihren Innereien zu lindern. Aber meine Füße brannten noch immer. Sie brannten die ganze Nacht. Das Brennen und die Angst raubten mir den Schlaf.
Es war eine Fleisch fressende Insel. Deswegen waren die Fische aus dem Teich verschwunden. Die Insel lockte Meeresfische in ihre unterirdischen Gänge - wie, weiß ich nicht; vielleicht stürzten die Fische sich ebenso gierig auf die Algen wie ich. Sie gerieten in die Falle. Verirrten sie sich? Schlossen sich irgendwann die Zugänge zum Meer? Veränderte sich der Salzgehalt des Wassers so allmählich, dass die Fische es erst bemerkten, wenn es zu spät war? Wie auch immer - sie waren gefangen im Süßwasser und starben. Einige gelangten nach oben an die Oberfläche der Teiche; das waren die Reste, von denen sich die Erdmännchen ernährten. In der Nacht stieg der Säurespiegel der räuberischen Algen durch eine mir unbekannte chemische Reaktion, die offenbar tagsüber durch das Sonnenlicht unterbunden wurde, gewaltig an, und die Teiche verwandelten sich in Säuregruben, die die Fische verdauten. Deswegen kehrte Richard Parker jeden Abend auf das Rettungsboot zurück. Deswegen schliefen die Erdmännchen auf den Bäumen. Deswegen hatte ich auf der Insel nie etwas anderes als Algen gesehen.
Und das war auch die Erklärung für die Zähne. Schon einmal war eine arme Seele an diesen schrecklichen Ufern gestrandet. Wie viel Zeit hatte er - oder war es eine Sie - hier verbracht? Wochen? Monate? Jahre? Wie viele verzweifelte Stunden in der Baumstadt mit niemandem außer den Erdmännchen zur Gesellschaft? Wie viele Träume von einem glücklichen Leben waren hier gescheitert? Wie viele Hoffnungen zunichte geworden? Wie viele Worte waren ungesagt geblieben? Wie viel Einsamkeit hatte dieser Mensch ertragen? Wie viel Mutlosigkeit hatte er getrotzt? Und was war von all dem am Ende geblieben?
Nichts als ein bisschen Zahnschmelz, wie Kleingeld in der Hosentasche. Mein Vorgänger musste auf dem Baum gestorben sein. War es eine Krankheit? Eine Verletzung? Depression? Wie lange braucht ein gebrochener Wille, um einen Körper zu töten, der Nahrung und Wasser und Unterschlupf hat? Die Bäume bestanden aus demselben Fleisch fressenden Stoff, doch ihr Säuregehalt war weit niedriger, ein sicherer Zufluchtsort für die Nacht, wenn der Rest der Insel brodelte. Aber als die Person erst einmal tot war und sich nicht mehr bewegte, musste der Baum den Körper langsam umschlungen und verdaut haben, den Knochen so lange die Nährstoffe entzogen, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Im Laufe der Zeit wären auch die Zähne noch verschwunden.
Ich sah mich um und betrachtete die Algen. Bitterkeit erfüllte mein Herz. Statt der leuchtenden Verheißung des Tages sah ich jetzt nur den nächtlichen Verrat.
»Zähne«, murmelte ich. »Nichts weiter als ZÄHNE!«
Bei Tagesanbruch stand mein Entschluss fest. Lieber wollte ich in See stechen und auf der Suche nach Meinesgleichen untergehen als auf dieser mörderischen Insel ein einsames Halbleben führen, bei dem es dem Körper gutging, obwohl die Seele längst tot war. Ich füllte sämtliche Vorratsbehälter mir frischem Wasser und trank wie ein Kamel. Ich stopfte mich den ganzen Tag über mit Algen voll, bis mein Magen nichts mehr aufnehmen konnte. Ich tötete und häutete so viele Erdmännchen, wie ich im Stauraum und am Boden des Rettungsboots unterbringen konnte. Ich sammelte tote Fische aus den Teichen. Mit dem Beil hackte ich ein großes Bündel Algen ab und band es mit einem Seil am Boot fest.
Ich konnte Richard Parker nicht im Stich lassen. Wenn ich ihn zurückließ, war sein Schicksal besiegelt. Er würde die erste Nacht nicht überleben. Wenn ich bei Sonnenuntergang allein in meinem Rettungsboot säße, würde ich wissen, dass er bei lebendigem Leibe verbrannte. Oder dass er sich ins Meer gestürzt hatte, wo er ertrinken würde. Ich wartete auf seine Rückkehr. Ich wusste, er würde sich nicht verspäten.
Als er an Bord war, stieß ich ab. Ein paar Stunden lang hielt die Strömung uns in der Nähe der Insel. Die Geräusche des Ozeans beunruhigten mich. Und ich war nicht mehr an das Schaukeln des Bootes gewöhnt. Die Nacht verging sehr langsam.
Am Morgen war die Insel verschwunden, genau wie die Algen, die wir im Schlepp gehabt hatten. Als die Nacht kam, hatten sie mit ihrer Säure das Seil aufgelöst.
Die See war schwer und der Himmel grau.
Kapitel 93
Ein großer Überdruss überkam mich, denn meine Fahrt war so sinnlos wie das Wetter. Aber das Leben wollte mich nicht verlassen. Der Rest dieser Geschichte ist nichts als Kummer, Schmerz und zähes Aushalten.
Das Hohe lockt das Niedere, das Niedere das Hohe. Und jeder, der sich in so elender Lage fände, wie ich mich fand, würde in seinen Gedanken nach Höherem streben. Je tiefer man steht, desto höher hinauf will der Geist. Es war nur natürlich, dass ich mich, hoffnungslos und verzweifelt, wie ich in meinem endlosen Leiden war, Gott zuwandte.
Kapitel 94
Als wir Land erreichten, Mexiko, um genau zu sein, war ich so schwach, dass ich kaum noch die Kraft hatte, mich darüber zu freuen. Die Landung war sehr mühsam. Fast wäre das Rettungsboot noch in der Brandung gekentert. Ich warf die Treibanker aus - was noch von ihnen übrig war -, in ganzer Breite, damit wir im rechten Winkel zu den Wellen blieben, und zog sie sogleich ein, wenn ein Wellenkamm uns erfasste. Auf diese Weise, durch Auswerfen und Einholen der Anker, ritten wir auf den Wellen ans Land. Es war gefährlich. Aber einmal erwischten wir eine Welle in genau dem richtigen Augenblick, und sie nahm uns ein großes Stück mit, über die hohen und dann in sich zusammenstürzenden Wasserwände hinaus. Ein letztes Mal holte ich die Anker ein, und das letzte Stückchen Wegs trieb die Strömung uns an Land. Mit einem Knirschen kam das Boot im Sand zum Stehen.