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Als ich die Joseph-Schule hinter mir hatte, ging ich aufs Petit Seminaire, die beste englischsprachige Privat-Oberschule in Pondicherry. Ravi war schon dort, und wie jeder jüngere Bruder hatte ich es schwer, als ich in die Fußstapfen des erfolgreichen älteren trat. Er war am Petit Seminaire der beste Sportler seiner Generation, ein perfekter Ball- und ein gefürchteter Schlagmann, Captain der besten Cricketmannschaft der Stadt, der Kapil Dev von Pondicherry. Dass ich schwimmen konnte, rührte keinen; es ist anscheinend ein Naturgesetz, dass Leute, die am Meer wohnen, nichts von Schwimmern halten, so wie Bergbewohner den Bergsteigern misstrauen. Aber nicht der Schatten, den mein großer Bruder warf, sollte mein Entkommen sein, auch wenn mir jeder Name lieber gewesen wäre als »Pisser«, sogar »Ravis Bruder«. Aber ich hatte einen besseren Plan.

Gleich am ersten Schultag setzte ich ihn in die Tat um, in der ersten Stunde. Ich saß zwischen anderen Schülern von Sankt Joseph in meiner Bank. Der Unterricht begann, wie stets der erste Schultag beginnt, mit dem Aufsagen der Namen. Jeder sagte seinen Namen, in der Reihenfolge, in der wir saßen.

»Ganapathy Kumar«, sagte Ganapathy Kumar.

»Vipin Nath«, sagte Vipin Nath.

»Shamshool Hudha«, sagte Shamshool Hudha.

»Peter Dharmaraj«, sagte Peter Dharmaraj.

Bei jedem Namen machte der Lehrer ein Häkchen auf seiner Liste und sah kurz auf, um sich das Gesicht einzuprägen. Ich war entsetzlich aufgeregt.

»Ajith Giadson«, sagte Ajith Giadson, vier Reihen weiter vorn ...

»Sampath Saroja«, sagte Sampath Saroja, drei Reihen ...

»Stanley Kumar«, sagte Stanley Kumar, zwei Reihen ...

»Sylvester Naveen«, sagte Sylvester Naveen, direkt vor mir.

Jetzt war ich dran. Zeit, Satan in seine Schranken zu weisen. Auf nach Medina.

Ich sprang auf und lief an die Tafel. Bevor der Lehrer etwas einwenden konnte, griff ich mir ein Stück Kreide und schrieb mit, was ich sagte:

Ich heiße

Piscine Molitor Patel,

besser bekannt als

— ich unterstrich doppelt die ersten beiden Buchstaben meines Vornamens —

Pi Patel

Und um es noch deutlicher zu machen, fügte ich hinzu:

π = 3,14

und zeichnete einen großen Kreis, den ich dann mit einem Strich durch die Mitte in zwei Hälften teilte, damit auch der Letzte begriff, auf welchen Grundsatz der Geometrie ich anspielte.

Alles schwieg. Der Lehrer starrte die Tafel an. Mir stockte der Atem. Dann sagte er: »Gut, Pi. Setzen. Aber das nächste Mal fragst du um Erlaubnis, bevor du deinen Platz verlässt.«

»Jawohl, Sir.«

Er machte sein Häkchen hinter meinen Namen. Und sah den nächsten Jungen an.

»Mansoor Ahamad«, sagte Mansoor Ahamad.

Ich war gerettet.

»Gautham Selvaraj«, sagte Gautham Selvaraj.

Ich konnte wieder atmen.

»Arun Annaji«, sagte Arun Annaji.

Ein neuer Anfang.

Ich wiederholte das Kunststück bei jedem Lehrer. Wiederholung ist wichtig, ob man nun Tiere trainiert oder Menschen. Eingerahmt von zwei Jungen mit ganz gewöhnlichen Namen, stürmte ich nach vorn und schrieb, bisweilen unter grässlichem Quietschen, den Namen meiner Neugeburt an die Wand. Es dauerte nicht lange, und die Jungs sprachen im Gleichklang mit, ein Crescendo, das, nachdem alle in dem Augenblick, in dem ich die richtige Note unterstrich, Luft geholt hatten, so triumphal in meinem neuen Namen gipfelte, dass es der Stolz jedes Chorleiters gewesen wäre. Ich schrieb, so schnell ich konnte, und ein paar Jungs feuerten mich mit einem »Drei! Komma! Eins! Vier!« an, und das Konzert endete mit meinem Strich durch den Kreis, den ich mit einer solchen Vehemenz zog, dass die Kreidestücke flogen.

Wenn ich an jenem Tag die Hand hob - und ich tat es bei jeder Gelegenheit -, dann erteilten die Lehrer mir das Wort mit einer einzigen Silbe, die Musik in meinen Ohren war. Die Schüler schlossen sich an, selbst die Teufel von Sankt Joseph. Der Name setzte sich durch. Wahrlich, wir sind eine Nation von Baumeistern: kurz danach benannte ein Junge namens Omprakash sich in Omega um, ein anderer nannte sich Ypsilon, und eine Zeit lang hatten wir auch Gamma, Lambda und Delta. Aber ich war der Erste und Dauerhafteste unter den Griechen vom Petit Seminaire. Selbst mein Bruder, der Captain der Cricketmannschaft, Liebling der Stadt, fand Gefallen daran. In der folgenden Woche nahm er mich beiseite.

»Ich höre, du hast einen neuen Spitznamen?«, fragte er.

Ich blieb still. Was immer er sich an Gemeinheit ausgedacht hatte, würde ich ertragen müssen. Es gab kein Entkommen.

»Wusste ja gar nicht, dass du so für die Farbe Gelb schwärmst.«

Gelb? Ich sah mich um. Keiner durfte hören, was jetzt kommen würde, schon gar nicht die Schläger. »Ravi, was meinst du damit?«, flüsterte ich.

»Oh, mir ist das egal, Bruderherz. Alles ist besser als ›Pisser‹. Sogar ›Pipi‹.«

Als er sich davonmachte, sagte er noch: »Du siehst ziemlich rot im Gesicht aus.«

Aber er behielt es für sich.

Und so fand ich in dem griechischen Buchstaben, der aussieht wie ein Schuppen mit einem Wellblechdach drauf, in jener rätselhaften, irrationalen Zahl, mit der die Wissenschaftler das Universum begreifen wollen, meine Zuflucht.

Kapitel 6

Er ist ein ausgezeichneter Koch. Sein stets überheiztes Haus ist erfüllt von Essensduft. Sein Gewürzregal sieht aus wie ein Apothekerladen. Wenn er Schrank oder Kühlschrank öffnet, sehe ich viele Markennamen, von denen ich noch nie gehört habe; ich könnte nicht einmal sagen, in welcher Sprache die Etiketten sind. Wir sind in Indien. Aber auch die westliche Küche beherrscht er perfekt. Er macht mir die würzigsten und doch feinsten Makkaroni mit Käse, die ich je bekommen habe. Und um seine Gemüsetacos würde ihn ganz Mexiko beneiden.

Und noch etwas fällt mir auf Alle Schränke sind zum Bersten gefüllt. Hinter jeder Tür, aufjedem Brett stehen säuberlich gestapelt Berge von Dosen und Päckchen. Ein Nahrungsvorrat, mit dem man die Belagerung von Leningrad überstehen könnte.

Kapitel 7

Ich habe Glück gehabt und bin in jungen Jahren an einige gute Lehrer geraten, Männer und Frauen, die Zugang zur finsteren Höhle meines Kopfes fanden und dort ein Streichholz entzündeten. Einer davon war MrSatish Kumar, mein Biologielehrer am Petit Seminaire und ein kommunistischer Aktivist, der nie die Hoffnung aufgab, dass wir in Tamil Nadu uns ein Beispiel am benachbarten Kerala nehmen würden statt dass wir Filmstars ins Parlament schickten. Er war sehr merkwürdig anzusehen. Sein Schädel war kahl und spitz, doch darunter saßen die dicksten Backen, die ich je bei einem Menschen gesehen habe; ebenso weiteten sich die schmalen Schultern zu einem massigen Bauch, der an den Sockel eines Berges denken ließ, nur dass dieser Sockel in der Luft schwebte, denn mit einer abrupten Kante endete er da, wo der Hosengürtel ihn einzwängte. Ich habe nie verstanden, wie die stockdürren Beine das Gewicht tragen konnten, das auf ihnen ruhte, aber sie schafften es, auch wenn sie sich bisweilen anders bewegten als man erwartete - so als könnte er seine Knie in jede gewünschte Richtung knicken. Sein Körperbau war geometrisch: zwei Dreiecke, ein kleines und ein großes, saßen auf zwei parallelen Linien. Aber organisch, mit ziemlich vielen Warzen sogar und schwarzen Haarbüscheln, die zu den Ohren herauslugten. Und freundlich war er. Wenn er lächelte, nahm es die gesamte Basis seines Kopfdreiecks ein.