»Gut.«
»Das Schiff sank. Es gab einen Ton von sich wie ein gewaltiges metallisches Rülpsen. Sachen blubberten an der Oberfläche, dann verschwanden sie. Ich trieb im Pazifischen Ozean. Ich schwamm zum Rettungsboot. Noch nie im Leben war ich mit solcher Macht geschwommen. Ich hatte das Gefühl, ich kam überhaupt nicht vom Fleck. Immer wieder schluckte ich Wasser. Mir war furchtbar kalt. Meine Kräfte ließen rasch nach. Ich hätte es nicht geschafft, hätte der Koch mir nicht einen Rettungsring zugeworfen und mich an Bord gezogen. Ich kletterte ins Boot und sank zusammen.
Vier von uns überlebten. Mutter klammerte sich an ein Bananennetz und erreichte so das Rettungsboot. Der Koch war schon an Bord, der Matrose ebenfalls.
Er aß die Fliegen. Der Koch, nicht der Matrose. Wir waren noch keinen Tag im Boot, wir hatten genügend Proviant und Wasser für Wochen, wir hatten Angelruten und Solardestillen, es gab keinen Grund anzunehmen, dass wir nicht bald gerettet würden. Und doch stand er da, fuchtelte mit den Armen und fing Fliegen, die er gierig verschlang. Vom ersten Augenblick an hatte er eine geradezu panische Angst vor dem Verhungern. Er nannte uns Narren und Idioten, weil wir an seinem Festmahl nicht teilhaben wollten. Wir fanden ihn widerwärtig und ekelhaft, aber wir zeigten es nicht. Wir waren äußerst höflich. Er war ein Fremder und ein Ausländer. Mutter lächelte und schüttelte den Kopf und hob nur abwehrend die Hände. Er war ein widerlicher Kerl. Sein Gaumen war so wählerisch wie eine Müllhalde. Er aß auch die Ratte. Er schnitt sie in Stücke und trocknete sie in der Sonne. Ich - nun, um ehrlich zu sein - ich habe auch ein kleines Stückchen probiert, ein winzig kleines, als Mutter nicht hinsah. Ich war so hungrig. Er war wirklich eine Bestie, dieser Koch, übellaunig und heuchlerisch.
Der Matrose war jung. Genau genommen war er älter als ich, wohl Anfang zwanzig, aber er hatte sich beim Sprung vom Schiff das Bein gebrochen, und der Schmerz machte ihn wieder zum Kind. Er war schön. Das Gesicht völlig bartlos, die Haut glatt und glänzend. Seine Züge - das breite Gesicht, die flache Nase, die schmalen Augen mit der auffälligen Lidfalte-wirkten so elegant. Ich fand, er sah aus wie ein chinesischer Kaiser. Er litt entsetzlich. Er sprach kein Englisch, nicht ein einziges Wort, nicht einmal ja oder nein oder hallo oder danke. Nur Chinesisch. Wenn er etwas sagte, verstanden wir kein Wort. Er muss sich sehr einsam gefühlt haben. Wenn er weinte, bettete Mutter seinen Kopf in ihren Schoß und hielt ihm die Hand. Es war sehr, sehr traurig. Er litt, und wir konnten nichts tun.
Am rechten Oberschenkel hatte er einen komplizierten Bruch. Der Knochen ragte aus dem Fleisch. Er schrie vor Schmerz. Wir richteten sein Bein so gut wir konnten und gaben ihm zu essen und zu trinken. Aber sein Bein entzündete sich. Obwohl wir den Eiter jeden Tag entfernten, wurde es schlimmer. Sein Fuß schwoll an und wurde schwarz.
Die Idee stammte vom Koch. Er war eine Bestie. Er tyrannisierte uns. Er flüsterte, dass der Brand immer weiter um sich greifen würde und dass nur eine Amputation den Matrosen retten könne. Da der Knochen im Oberschenkel bereits gebrochen sei, müsse man nur noch das Fleisch durchtrennen und eine Aderpresse anlegen. Ich habe seine widerlichen Einflüsterungen noch im Ohr. Er wolle die Aufgabe übernehmen, um das Leben des Matrosen zu retten, sagte er, aber wir müssten ihn festhalten. Als Betäubungsmittel hätten wir nichts als die Überraschung. Wir stürzten uns auf ihn. Mutter und ich hielten seine Arme fest, der Koch setzte sich auf das gesunde Bein. Der Matrose bäumte sich auf und schrie. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Der Koch war geschickt mit dem Messer. Das Bein fiel herunter. Sofort lie-ßen Mutter und ich den Matrosen los. Wir dachten, vielleicht bäumt er sich nicht mehr so auf, wenn wir ihn nicht mehr festhalten. Wir hatten uns vorgestellt, dass er still liegen blieb. Aber das tat er nicht. Er setzte sich sofort auf. Seine Schreie waren umso entsetzlicher, weil wir sie nicht verstehen konnten. Er schrie, und wir starrten ihn wie gebannt an. Alles war voller Blut. Es war entsetzlich anzusehen, wie panisch der Matrose zuckte und wie still sein Bein am Boden lag. Er sah das Bein unverwandt an, als flehe er es an, zu ihm zurückzukommen. Schließlich sank er nach hinten. Wir gingen in aller Eile zu Werke. Der Koch bedeckte den Knochen mit etwas Haut. Wir wickelten den Stumpf in ein Stück Stoff und banden ihn oberhalb der Wunde mit einem Seil ab, um die Blutung zu stillen. Wir betteten den Matrosen so bequem wie möglich auf eine Matratze aus Schwimmwesten und hielten ihn warm. Ich hatte längst allen Glauben verloren, dass wir ihn retten könnten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein menschliches Wesen so viel Schmerz ertragen konnte, ein solches Gemetzel. Den ganzen Abend und die ganze Nacht über stöhnte er, und er atmete schwer und unregelmäßig. Manchmal phantasierte er wild. Ich rechnete damit, dass er im Laufe der Nacht sterben würde.
Er klammerte sich ans Leben. Bei Tagesanbruch lebte er immer noch. Immer wieder verlor er das Bewusstsein. Mutter gab ihm Wasser. Mein Blick fiel auf das amputierte Bein. In der ganzen Aufregung war es beiseite geschubst worden und in der Dunkelheit in Vergessenheit geraten. Eine Flüssigkeit war herausgesickert, und es sah dünner aus. Ich nahm eine Schwimmweste wie einen Handschuh. Ich packte das Bein und hob es hoch.
›Was hast du vor?‹, fragte der Koch
›Ich will es über Bord werfen‹, erwiderte ich.
›Bist du verrückt? Das brauchen wir als Köder. Deswegen haben wir es doch gemacht.‹
Offenbar merkte er, dass er sich verplappert hatte, denn plötzlich wurde er leiser. Er wandte sich ab.
›Deswegen haben wir es gemacht?‹, fragte Mutter. ›Was wollen Sie damit sagen?‹
Er tat, als sei er beschäftigt.
Mutter hob die Stimme. ›Wollen Sie damit sagen, wir haben diesem armen Jungen ein Bein abgeschnitten, um Angelköder zu bekommen, und nicht um sein Leben zu retten?‹
Die Bestie schwieg.
›Antworten Sie!‹, schrie Mutter.
Wie ein in die Enge getriebenes Tier hob er den Blick und funkelte sie an. ›Unsere Vorräte gehen zur Neige‹, fauchte er. ›Wir brauchen mehr zu essen, sonst sterben wir.‹
Mutter starrte ihn nicht minder hasserfüllt an. ›Unsere Vorräte gehen nicht zur Neige! Wir haben reichlich Proviant und Wasser. Wir haben große Mengen Schiffszwieback, mit denen wir durchhalten können, bis Hilfe kommt.‹ Sie ergriff das Kunststoffgefäß, in dem wir die geöffneten Zwiebackpackungen aufbewahrten. Es fühlte sich unerwartet leicht an. In seinem Inneren rasselten nur einige wenige Krümel. ›Was!‹ Sie öffnete das Gefäß. ›Wo sind die Zwiebacke? Gestern Abend war die Dose noch voll!‹
Der Koch wandte den Blick ab. Und ich ebenfalls.
›Sie selbstsüchtiges Scheusal!‹, schrie Mutter. ›Wenn unsere Vorräte zur Neige gehen, dann nur wegen Ihrer Gefräßigkeit!‹
›Er hat auch davon gegessen‹, sagte er und nickte in meine Richtung.
Mutter sah mich an. Mir rutschte das Herz in die Hose.
›Stimmt das, Piscine?‹
›Es war Nacht, Mutter. Ich schlief ja halb und hatte solchen Hunger. Er hat mir einen Zwieback gegeben. Ich habe ihn gegessen und mir nichts dabei gedacht ...‹
›So, so, nur einen?‹, spottete der Koch.
Jetzt war es Mutter, die den Blick abwandte. Ihr Zorn verebbte. Wortlos wandte sie sich wieder dem Matrosen zu.
Ich sehnte mich nach ihrem Zorn. Ich sehnte mich danach, dass sie mich bestrafte. Alles, nur nicht dieses Schweigen. Ich machte mich an den Schwimmwesten zu schaffen, auf denen der Matrose lag, nur um in ihrer Nähe zu sein. Ich flüsterte: ›Es tut mir Leid, Mutter, es tut mir Leid.‹ Mir standen die Tränen in den Augen. Als ich aufblickte, sah ich, dass es ihr ebenso ging. Aber sie sah mich nicht an. Ihre Augen waren auf eine Erinnerung gerichtet, irgendwo in weiter Ferne.