›Wir sind ganz allein, Piscine, ganz allein‹, sagte sie mit einer Stimme, die alle Hoffnung in mir sterben ließ. Nie im Leben habe ich mich so einsam gefühlt wie in diesem Augenblick. Wir waren schon seit zwei Wochen im Boot, und es forderte seinen Tribut. Wir konnten nicht mehr so tun, als ob wir hofften, dass Vater und Ravi überlebt hatten.
Als wir uns umdrehten, hielt der Koch das Bein am Knöchel über das Wasser und ließ die Flüssigkeit heraustropfen. Mutter legte dem Matrosen die Hand über die Augen.
Er starb friedlich. Das Leben sickerte aus ihm heraus wie die Flüssigkeit aus seinem Bein. Der Koch machte sich sofort über ihn her. Das Bein hatte keine brauchbaren Köder ergeben. Das tote Fleisch war verfault und hielt nicht am Angelhaken: Es löste sich im Wasser einfach auf. Das Scheusal ließ nichts verkommen. Er schnitt alles klein, sogar die Haut des Matrosen und jeden Zentimeter seiner Därme. Selbst die Genitalien verarbeitete er. Als er mit dem Torso fertig war, kamen die Arme und Schultern und das verbliebene Bein an die Reihe. Mutter und mir war schwindlig vor Schmerz und Entsetzen. Mutter schrie ihn an: ›Wie können Sie so etwas tun, Sie Scheusal? Sind Sie kein Mensch? Haben Sie keinen Anstand? Was hat der arme Junge Ihnen getan? Sie Scheusal! Sie Scheusal!‹ Der Koch antwortete mit einer Unflätigkeit.
›Mein Gott, bedecken Sie doch wenigstens sein Gesicht!‹, schrie Mutter. Es war ein unerträglicher Anblick: das schöne Gesicht, so edel und reglos, und dann das, was nun mit ihm geschah. Der Koch stürzte sich auf den Kopf des Matrosen; vor unseren Augen skalpierte er ihn und riss ihm das Gesicht vom Schädel. Mutter und ich übergaben uns.
Als er fertig war, warf er die Überreste des Gemetzels über Bord. Wenig später lagen überall im Boot Fleischstreifen und Stücke von inneren Organen zum Trocken in der Sonne. Wir schauderten entsetzt zurück. Wir versuchten, nicht hinzusehen. Aber der Geruch blieb.
Als er das nächste Mal in ihre Nähe kam, gab Mutter dem Koch eine Ohrfeige, und der laute Knall ließ die Luft erzittern. Es war erschreckend, dass meine Mutter so etwas tat. Und es war heroisch. Es war ein Akt des Zorns und des Mitleids, der Trauer und der Tapferkeit. Sie tat es im Gedenken an den armen Matrosen. Sie tat es zur Rettung seiner Würde.
Ich war verblüfft, und der Koch ebenfalls. Er stand reglos und stumm, und Mutter blickte ihm zornig ins Gesicht. Mir fiel auf, dass er ihr nicht in die Augen sah.
Wir zogen uns in unsere getrennten Bereiche zurück. Ich blieb in ihrer Nähe. Ich bewunderte sie abgöttisch dafür, aber umso tiefer war auch meine Angst um sie.
Mutter behielt ihn im Auge. Zwei Tage später ertappte sie ihn. Er wollte es heimlich tun, aber sie sah, wie er die Hand zum Munde führte. Sie schrie: ›Ich habe Sie gesehen! Sie haben gerade ein Stück gegessen! Sie haben gesagt, es sind Köder! Ich habe es gewusst. Sie Scheusal! Sie Bestie! Wie können Sie so etwas tun? Er ist ein Mensch! Er ist Ihresgleichen!‹ Wenn sie erwartet hatte, dass er den Bissen reumütig ausspucken und sich entschuldigen würde, hatte sie sich geirrt. Er kaute seelenruhig weiter. Ja, er hob sogar den Kopf und schob sich den Rest des Fleischstreifens demonstrativ in den Mund. ›Schmeckt wie Schweinefleisch‹, brummte er. Mutter wandte sich abrupt ab - anders konnte sie ihre Empörung und ihren Abscheu nicht zum Ausdruck bringen. Er aß einen weiteren Streifen. ›Ich fühle mich schon kräftiger‹, raunte er. Er konzentrierte sich auf seine Angel.
Wir hatten jeder ein Ende des Rettungsboots für uns. Es ist erstaunlich, wie die Willenskraft Mauern errichten kann. Ganze Tage lebten wir, als sei er gar nicht da.
Aber wir konnten ihn nicht völlig ignorieren. Er war eine Bestie, aber eine schlaue. Er war geschickt mit den Händen, und er kannte das Meer. Er steckte voller guter Ideen. Er war es, der auf den Gedanken kam, ein Floß zu bauen, damit wir besser fischen konnten. Dass wir überhaupt längere Zeit überlebten, verdankten wir ihm. Ich half ihm nach Kräften. Er war sehr aufbrausend, schrie mich an und beschimpfte mich.
Mutter und ich aßen nichts von dem Fleisch des Matrosen, nicht einen einzigen Bissen, obwohl wir immer schwächer wurden, aber wir aßen von den Meerestieren, die der Koch fing. Meine Mutter, die zeitlebens Vegetarierin gewesen war, zwang sich dazu, rohen Fisch und rohes Schildkrötenfleisch zu essen. Es fiel ihr sehr schwer. Sie überwand ihren Widerwillen nie. Für mich selbst war es nicht ganz so schlimm. Der Hunger sorgte dafür, dass ich es herunterbrachte.
Wenn man dem sicheren Tod entrinnt, dann wird man dem, dem man die Gnadenfrist verdankt, mit Sympathie begegnen - man kann nicht anders. Es war sehr aufregend, wenn der Koch eine Schildkröte an Bord hievte oder eine große Dorade fing. Es zauberte ein strahlendes Lächeln auf unsere Gesichter und eine Wärme in unsere Brust, die stundenlang vorhielt. Mutter und der Koch plauderten miteinander und scherzten sogar. Manchmal, wenn die Sonne besonders spektakulär unterging, war das Leben im Rettungsboot beinahe angenehm. Bei solchen Gelegenheiten betrachtete ich ihn - ja- geradezu zärtlich. Liebevoll. Ich stellte mir vor, wir wären gute Freunde. Er war ein brutaler Kerl, selbst wenn er guter Laune war, aber wir taten so, als merkten wir es nicht, sogar vor uns selbst. Er prophezeite, wir würden eine Insel finden. Das war unsere größte Hoffnung. Bis zur Erschöpfung suchten wir mit den Augen den Horizont ab nach einer Insel, die niemals auftauchte. Und während wir aufs Meer spähten, stahl er Proviant und Wasser.
Der flache, endlose Pazifik umringte uns wie eine hohe Mauer. Ich dachte, wir würden sie nie überwinden.
Er hat sie getötet. Der Koch hat meine Mutter getötet. Der Hunger quälte uns. Ich war schwach. Ich konnte eine Schildkröte nicht festhalten. Ich war schuld, dass sie uns entwischte. Er schlug mich. Mutter schlug ihn. Er schlug zurück. Sie drehte sich zu mir um und sagte: ›Geh!‹ Sie stieß mich zum Floß. Ich sprang. Ich dachte, sie würde nachkommen. Ich landete im Wasser. Ich kletterte auf das Floß. Sie kämpften. Ich saß einfach da und sah zu. Meine Mutter kämpfte mit einem erwachsenen Mann. Er war gemein und sehr stark. Er packte sie am Handgelenk und verdrehte ihr den Arm. Sie schrie auf und stürzte. Er beugte sich über sie. Dann sah ich das Messer. Er hob es empor. Es stach zu. Als es das nächste Mal nach oben kam, war es rot. Mehrere Male fuhr es auf und nieder. Ich konnte sie nicht sehen. Sie lag am Boden des Bootes. Ich sah nur ihn. Er hielt inne. Er hob den Kopf und sah mich an. Er schleuderte etwas zu mir herüber. Blut spritzte mir ins Gesicht. Keine Peitsche hätte mir einen schlimmeren Hieb versetzen können. Ich hielt den Kopf meiner Mutter in Händen. Ich ließ ihn los. Er versank in einer Wolke aus Blut, zog ihren Haarzopf hinter sich her wie einen Schweif. Fische umkreisten ihn auf dem Weg in die Tiefe, bis der lange graue Schatten eines Hais seinen Weg kreuzte und er verschwand. Ich blickte auf. Er war nicht zu sehen. Er versteckte sich am Boden des Boots. Er tauchte erst auf, als er die Leiche meiner Mutter über Bord warf. Sein Mund war rot verschmiert. Das Wasser brodelte vor Fischen.
Ich verbrachte den Rest dieses Tages und die Nacht auf dem Floß und beobachtete ihn. Wir sprachen kein Wort. Er hätte das Verbindungsseil kappen können. Aber er tat es nicht. Er behielt mich in seiner Nähe wie ein schlechtes Gewissen.
Am Morgen zog ich vor seinen Augen an dem Seil und bestieg das Rettungsboot. Ich war sehr schwach. Er sagte nichts. Ich bewahrte die Ruhe. Er fing eine Schildkröte. Er gab mir das Blut. Er schlachtete sie und legte die besten Teile für mich auf die Mittelbank. Ich aß.
Dann kämpften wir, und ich tötete ihn. Seine Miene war ausdruckslos, zeigte weder Verzweiflung noch Zorn, weder Angst noch Schmerz. Er gab auf. Er wehrte sich zwar, ließ aber zu, dass ich ihn tötete. Er wusste, er war zu weit gegangen, selbst nach seinen brutalen Maßstäben. Er war zu weit gegangen, und jetzt wollte er nicht mehr leben. Aber nicht ein einziges Mal sagte er: ›Es tut mir Leid.‹ Warum halten wir fest an unserem sündigen Tun?