»Nein.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass das Schiff sachgemäß beladen war?«
»Ich war das erste Mal auf einem Schiff. Ich habe keine Ahnung, wie ein sachgemäß beladenes Schiff aussehen müsste.«
»Sie hatten den Eindruck, Sie hätten eine Explosion gehört?«
»Ja.«
»Gab es noch andere Geräusche?«
»Tausend.«
»Geräusche, die den Untergang des Schiffes erklären könnten, meine ich.«
»Nein.«
»Sie sagen, das Schiff sei binnen kurzem gesunken.«
»Ja.«
»Könnten Sie abschätzen, wie lange es dauerte?«
»Das ist nicht leicht. Es ging sehr schnell. Weniger als zwanzig Minuten, würde ich sagen.«
»Es gab viele Trümmer?«
»Ja.«
»Wurde das Schiff von einer besonders hohen Welle getroffen?«
»Ich glaube nicht.«
»Aber es war stürmische See?«
»Mir kam sie ziemlich rau vor. Es war windig und regnete.«
»Wie hoch waren die Wellen?«
»Hoch. Acht, zehn Meter.«
»Das ist doch nicht viel.«
»Sitzen Sie dabei mal in einem Rettungsboot.«
»Ja, natürlich. Aber nicht viel für einen Frachter.«
»Vielleicht waren sie auch höher. Ich weiß es nicht. Jedenfalls war das Wetter so schlecht, dass es mir eine Heidenangst machte.«
»Sie sagen, danach sei das Wetter rasch wieder besser geworden. Das Schiff sank, und gleich danach herrschte wieder der schönste Sonnenschein. So haben Sie es uns doch beschrieben, nicht wahr?«
»Ja.«
»Hört sich eher nach einer kleinen Windbö an.«
»Immerhin ist das Schiff davon gesunken.«
»Das fragen wir uns eben.«
»Meine ganze Familie kam dabei um.«
»Das tut uns Leid.«
»Nicht so sehr wie mir.«
»Was ist also geschehen, MrPatel? Da tappen wir immer noch im Dunkeln. Alles war ganz normal, und dann ...?«
»Dann ist es untergegangen.«
»Aber warum?«
»Das weiß ich nicht. Sie sind doch die Experten. Das sollten Sie mir sagen. Denken Sie nach!«
»Wir verstehen es nicht.«
[Langes Schweigen]
MrChiba: »Was nun?«
MrOkamoto: »Wir geben auf. Die Erklärung für den Untergang der Tsimtsum liegt auf dem Grund des Pazifiks.
[Langes Schweigen]
MrOkamoto: »Ja. Erledigt. Kommen Sie. MrPatel, ich glaube, jetzt haben wir alles, was wir brauchen. Wir möchten Ihnen für Ihre Mitarbeit danken. Sie waren uns eine sehr, sehr große Hilfe.«
»Gern geschehen. Aber bevor Sie gehen, möchte ich Sie noch etwas fragen.«
»Ja?«
»Die Tsimtsum sank am 2.Juli 1977.«
»Ja.«
»Und ich langte als einziger menschlicher Überlebender der Tsimtsum am 14.Februar 1978 an der mexikanischen Küste an.«
»Richtig.«
»Ich habe Ihnen zwei Geschichten über das erzählt, was in den 227 Tagen dazwischen geschehen ist.«
»Ja, das haben Sie.«
»Keine von beiden erklärt den Untergang der Tsimtsum.«
»Stimmt.«
»Für Sie macht es, was die Fakten angeht, keinen Unterschied.«
»Da haben Sie Recht.«
»Sie können nicht beweisen, welche Geschichte wahr ist und welche nicht. Sie müssen auf das vertrauen, was ich Ihnen sage.«
»Tja, anscheinend.«
»In beiden Geschichten geht das Schiff unter, meine gesamte Familie kommt um und ich habe viel zu leiden.«
»Das ist wahr.«
»Dann sagen Sie mir doch - da es für Ihre Ermittlungen keinen Unterschied macht und da Sie nicht entscheiden können, ob die eine oder ob die andere Geschichte wahr ist-welche von beiden gefällt Ihnen besser? Welche ist die bessere Geschichte, die mit den Tieren oder die ohne Tiere?«
MrOkamoto: »Das ist eine interessante Frage ...«
MrChiba: »Die mit den Tieren.«
MrOkamoto: »Ja. Die Geschichte mit den Tieren ist die bessere Geschichte.«
Pi Pateclass="underline" »Danke. Und genauso ist es mit Gott.«
[Schweigen]
MrChiba: »Was will er damit sagen?«
MrOkamoto: »Keine Ahnung.«
MrChiba: »Schauen Sie nur - er weint.«
[Langes Schweigen]
MrOkamoto: »Auf der Rückfahrt werden wir uns sehr in Acht nehmen. Wir wollen ja nicht Richard Parker in die Krallen geraten.«
Pi Pateclass="underline" »Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Wo er sich versteckt, werden Sie ihn nie finden.«
MrOkamoto: »Danke, dass Sie sich so viel Zeit für uns genommen haben, MrPatel. Und glauben Sie mir, es tut uns aufrichtig Leid, was Ihnen widerfahren ist.«
»Danke.«
»Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich glaube, ich werde nach Kanada gehen.«
»Nicht zurück nach Indien?«
»Nein. Da habe ich niemanden mehr. Nur traurige Erinnerungen.«
»Sie werden natürlich Geld von der Versicherung bekommen.«
»Oh.«
»Ja. Oika wird sich bei Ihnen melden.«
[Schweigen]
MrOkamoto: »Dann sollten wir jetzt gehen. Wir wünschen Ihnen alles Gute, MrPatel.«
MrChiba: »Ja, alles Gute.«
»Danke.«
MrOkamoto: »Auf Wiedersehen.«
MrChiba: »Auf Wiedersehen.«
Pi Pateclass="underline" »Möchten Sie noch ein paar Kekse für unterwegs?«
MrOkamoto: »Das wäre schön.«
»Hier, für jeden drei.«
»Danke.«
MrChiba: »Danke.«
»Gern geschehen. Lebt wohl, meine Brüder. Gott sei mit euch.«
»Danke. Und mit Ihnen auch, MrPatel.«
MrChiba: »Auf Wiedersehen.«
MrOkamoto: »Habe ich einen Hunger! Jetzt gehen wir erst mal was essen. Das Ding können Sie abstellen.«
Kapitel 100
In seinem Brief an mich erinnert sich MrOkamoto an die Befragung als »schwierig und denkwürdig«. Piscine Molitor Patel sei ihm im Gedächtnis geblieben als »sehr dünn, sehr beharrlich, sehr klug«.
Aus seinem Abschlussbericht füge ich noch die entscheidenden Absätze an:
Einziger Überlebender konnte keinerlei Aufschlüsse über Grund für Untergang der Tsimtsum geben. Schiff sank offenbar sehr schnell, was auf größeren Schaden am Schiffskörper schließen lässt. Starkes Trümmeraufkommen untermauert diese Theorie. Ursache des Lecks jedoch nicht zu ermitteln. Keine größeren Unwetter für den fraglichen Quadranten am Unglückstag gemeldet. Wetterbericht des Überlebenden persönlich gefärbt und unzuverlässig. Wetter äußerstenfalls zusätzlicher Faktor. Ursache eher in Schiff selbst zu suchen. Überlebender glaubt, er habe Explosion gehört, eventuell Hinweis auf größeres Maschinenversagen, möglicherweise Kesselexplosion, aber spekulativ. Alter des Schiffes neunundzwanzig Jahre (Werft Erlandson und Skank, Malmö, 1948), überholt 1970. Materialermüdung im Verein mit Wetter mögliche Erklärung, bleibt jedoch Vermutung. Keine andere Havarie am fraglichen Tag im Bereich der Unglücksstelle bekannt, Schiffskollision wohl auszuschließen. Kollision mit Treibgut denkbar, jedoch nicht zu verifizieren. Kollision mit Schwimmmine würde Explosion erklären, jedoch unwahrscheinlich, zumal Schiff mit dem Heck zuerst sank, was Schaden im rückwärtigen Bereich nahe legt. Überlebender meldet Zweifel an Tüchtigkeit der Mannschaft an, keine Auskünfte über Offiziere. Oika Shipping Company versichert, dass Ladung absolut legal, kein Hinweis auf Unregelmäßigkeiten bei Offizieren oder Mannschaft.
Unglücksursache aus den verfügbaren Informationen nicht zu ermitteln. Versicherungsansprüche Oikas bestätigt. Weitere Ermittlungen nicht erforderlich. Akte kann geschlossen werden.