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MrKumar war der erste Atheist, der mir begegnete. Ich erfuhr es nicht im Klassenzimmer, sondern im Zoo. Er war ein regelmäßiger Besucher, las sorgfältig Schilder und Beschreibungen und hatte für jedes Tier, das er sah, ein anerkennendes Wort. Jedes war für ihn ein Triumph der Logik und der Mechanik, und die gesamte Natur war einfach nur eine besonders schöne Illustration wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit. Wenn ein Tier den Drang zur Fortpflanzung verspürte, hieß das für ihn »Gregor Mendel«, nach dem Vater der Vererbungslehre, und wenn es die Muskeln spielen ließ, dann hieß es »Charles Darwin«, nach dem Begründer der Evolutionstheorie; was uns als Blöken, Zischen, Grunzen vorkam, waren für ihn nur einzelne Akzente im Chor der fremdländischen Schar. Wenn MrKumar den Zoo besuchte, dann kam er, um dem Universum den Puls zu horchen, und das Stethoskop seines Verstandes sagte ihm jedes Mal, dass alles in Ordnung, ja dass alles Ordnung war. Wenn er den Zoo verließ, fühlte er sich wissenschaftlich erquickt.

Das erste Mal, dass ich seine Dreiecksgestalt zwischen den Gehegen schaukeln sah, traute ich mich nicht zu ihm hin. So gern ich zu ihm in den Unterricht ging, war er doch eine Respektsperson und ich ein Untergebener. Ich fürchtete mich ein wenig vor ihm. Ich beobachtete ihn aus der Ferne. Er war eben an die Nashorngrube getreten. Die beiden Indischen Nashörner waren große Attraktionen im Zoo, und zwar wegen der Ziegen. Rhinozerosse sind gesellige Tiere, und als Peak zu uns kam, ein in der Wildnis gefangener Jungbulle, litt er unter der Einsamkeit und fraß von Tag zu Tag weniger. Als Übergangslösung, bis er ein weibliches Tier fand, war mein Vater auf die Idee gekommen, ihm Ziegen zur Gesellschaft zu geben. Wenn es funktionierte, hatte er ein wertvolles Tier gerettet; wenn nicht, kostete es ihn nur ein paar Ziegen. Es bewährte sich bestens. Peak und die Ziegenherde waren unzertrennlich, selbst als seine Gefährtin Summit dazustieß. Jetzt umringten die Ziegen die Schlammpfütze, wenn die beiden Nashörner badeten, und wenn die Ziegen ihre Tagesration bekamen, stellten sich Peak und Summit hinter sie, als wollten sie sie bewachen. Das Publikum war von der Wohngemeinschaft begeistert.

MrKumar blickte auf und sah mich. Er lächelte und winkte mich, wobei er sich mit einer Hand am Geländer festhielt, zu sich herüber.

»Hallo, Pi«, sagte er.

»Hallo, Sir. Schön, dass Sie in den Zoo kommen.«

»Ich bin oft hier. Der Zoo ist mein Tempel, könnte man sagen. Das hier« - er wies auf die Grube -, »das ist interessant ... Wenn wir Politiker wie die Ziegen und Nashörner dort hätten, dann hätten wir weniger Sorgen in unserem Land. Unsere Premierministerin hat zwar den Panzer eines Nashorns, doch leider nichts von seiner Vernunft.«

Ich verstand nicht viel von Politik. Meine Eltern beschwerten sich zwar laufend über MrsGandhi, aber mir sagte das nichts. Sie lebte weit im Norden, nicht im Zoo und nicht in Pondicherry. Aber ich musste ja etwas antworten.

»Die Religion wird uns retten«, sagte ich. So weit ich überhaupt zurückdenken konnte, hatte die Religion mir am Herzen gelegen.

»Religion?« MrKumar grinste zufrieden. »Ich glaube nicht an die Religion. Religion ist das Dunkel.«

Dunkel? Ich war verblüfft. Dunkelheit war doch das Letzte, was Religion war. Religion war Licht. Wollte er mich prüfen? Sagte er »Religion ist das Dunkel«, so wie er manchmal im Unterricht Sachen sagte wie »Säugetiere legen Eier« und darauf wartete, dass jemand widersprach (»Aber nur das Schnabeltier, Sir«)?

»Es gibt keinen Grund, sich mit der naturwissenschaftlichen Erklärung der Welt nicht zufrieden zu geben - keinen Grund, etwas anderem zu glauben als unseren eigenen Sinnen. Ein klarer Verstand, ein aufmerksames Auge und ein wenig wissenschaftliche Erfahrung, und jede Religion ist als abergläubiges Geschwätz entlarvt. Gott gibt es nicht.«

Hat er das gesagt? Oder war das später, bei anderen Atheisten? Jedenfalls waren es Worte in dieser Art, und nie im Leben hatte ich so etwas gehört.

»Warum dem Dunkel Macht einräumen? Alles ist hier, alles ist eindeutig, wir müssen nur hinsehen.«

Er wies auf Peak. Nun bewunderte ich Peak wirklich sehr, aber ich war noch nie auf die Idee gekommen, in einem Rhinozeros den Quell der Erleuchtung zu sehen.

»Manche sagen«, fuhr er fort, »Gott sei 1947 gestorben, als unser Land geteilt wurde. Manche sagen, er starb 1971 im Krieg. Vielleicht war es auch erst gestern hier in Pondicherry in einem Waisenhaus. So etwas hört man von den Leuten, Pi. Als ich so alt war wie du, verbrachte ich meine Tage im Bett und rang mit der Kinderlähmung. Jeden Tag neu fragte ich mich: ›Wo ist Gott? Wo ist Gott? Wo ist Gott?‹ Aber Gott kam nie. Nicht Gott hat mich gerettet - es war die Medizin. Die Vernunft ist mein Prophet, und sie sagt mir, dass wir sterben, genau wie eine abgelaufene Uhr stehen bleibt. Das ist nur natürlich. Und wenn die Uhr nicht richtig läuft, dann muss sie hier und jetzt in Ordnung gebracht werden, und zwar von uns. Der Tag wird kommen, an dem wir die Produktionsmittel übernehmen, und dann herrscht Gerechtigkeit auf Erden.«

Das war alles ein wenig viel für mich. Der Ton gefiel mir - tapfer und engagiert -, aber die Einzelheiten klangen bedrückend. Ich schwieg. Nicht aus Furcht, dass ich MrKumar verärgern könnte. Eher fürchtete ich, dass er mit ein paar hingeworfenen Worten etwas zerstören könnte, das mir so wertvoll war. Was, wenn seine Worte auf mich wirkten wie die Kinderlähmung? Das musste eine mächtige Krankheit sein, wenn sie Gott in einem Menschen töten konnte.

Er ging davon, schlingerte heftig in der schweren See, die der feste Erdboden war. »Vergiss nicht die Klassenarbeit am Dienstag. Immer fleißig lernen, 3<14!«

»Ja, MrKumar.«

Er wurde mein Lieblingslehrer am Petit Séminaire, ihm habe ich es zu verdanken, dass ich an der Universität von Toronto Zoologie studierte. Ich fühlte mich ihm verwandt. Zum ersten Mal erfuhr ich, dass die Atheisten meine Brüder und Schwestern im Glauben sind. Sie glauben an etwas anderes, aber jedes Wort, das sie sprechen, spricht vom Glauben. Genau wie ich gehen sie so weit, wie die Beine der Vernunft sie tragen - und dann machen sie den Sprung.

Ich will es ganz offen sagen. Es sind nicht die Atheisten, die ich nicht leiden kann, sondern die Agnostiker. Eine Zeit lang ist der Zweifel ein nützliches Mittel. Jeder von uns muss durch den Garten Getsemaneh. Wenn Christus zweifelte, dann sollten wir es ebenfalls tun. Wenn Christus eine qualvolle Nacht im Gebet verbrachte, wenn er vom Kreuz sein »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« herunterschrie, dann wird gewiss auch uns der Zweifel gestattet sein. Aber wir müssen über den Zweifel hinauskommen. Den Zweifel zur Lebensphilosophie zu erklären, das ist, als wählte man den Stillstand zum Transportmittel.

Kapitel 8

Wir Zooleute sagen gern: Das gefährlichste Tier im Zoo ist der Mensch. Allgemein gesprochen meinen wir damit, dass die Unersättlichkeit des Raubtiers Mensch den ganzen Planeten zu seiner Beute gemacht hat. Im spezielleren Sinne denken wir dabei an jene, die den Ottern Angelhaken zu fressen hinwerfen, den Bären Rasierklingen, den Elefanten Äpfel, in die sie Nägel gesteckt haben, überhaupt Gegenstände aller Art: Kugelschreiber, Büroklammern, Sicherheitsnadeln, Gummiringe, Kämme, Teelöffel, Hufeisen, Glasscherben, Ringe, Broschen und anderen Schmuck (und nicht nur billige Ohrstecker, sondern goldene Eheringe), Strohhalme, Plastikbesteck, Tennisbälle, Federbälle und so weiter. Ein Nachruf auf Zootiere, die daran gestorben sind, dass Menschen ihnen solche Dinge gegeben haben, würde Gorillas umfassen, Bisons, Störche, Nandus, Strauße, Seehunde, Seelöwen, Großkatzen, Bären, Kamele, Elefanten, Affen und so ziemlich jede Art von Singvogel, Wild und Wiederkäuer. Jeder Zoowärter kennt die traurige Geschichte von Goliath, dem Seeelefanten, einem prachtvollen Tier von zwei Tonnen Gewicht; er war der Star seines Zoos in Europa, alle Besucher liebten ihn. Er starb an inneren Blutungen, weil jemand ihn mit einer zerbrochenen Bierflasche gefüttert hatte.