„Viktor Nikolajewitsch, mein Tabak… er ist weg! Man hat ihn mir geklaut… gestohlen…“ Zigeuners Stimme klang sehr leise. Jankel durchfuhr es. Jetzt wußte er, wessen Tabak er in seiner Wut weggenommen hatte, und nun mußte der arme Zigeuner das ausbaden. Außer sich vor Zorn, sprang Vikniksor auf Zigeuner zu, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn wie einen Sack hin und her. „Lügen willst du, Bandit? Lügen?“ fauchte er. „Bring den Tabak her! Los!“
Jankel kam es vor, als würde er selbst geschüttelt. Aber er brachte nicht den Mut auf, ein Geständnis abzulegen. Plötzlich fand er einen Ausweg.
„Viktor Nikolajewitsch! Gromonoszew hat keinen Tabak mehr, das summt!“
Vikniksor ließ Zigeuner los und starrte dessen Verteidiger wütend an. Jankel sank der Mut, aber er war entschlossen, seinen Plan durchzuführen.
„Sehen Sie, Viktor Nikolajewitsch, ein Päckchen haben wir gemeinsam aufgeraucht. Es war überzählig. Und eines… eines haben Sie wahrscheinlich gefunden, nicht? Das muß Gromonoszews Päckchen gewesen sein.“
„Richtig. Eins hat mir ein Erzieher gebracht“, murmelte der Direktor nachdenklich.
„Aus dem Badezimmer?“ fragte Zigeuner. „Nein, nicht aus dem Badezimmer.“ Jankel durchfuhr es wieder.
„Na gut“, knurrte Vikniksor. „Ihr könnt jetzt gehen. Über euer abscheuliches Verhalten werden wir später beraten.“
Der Unterricht war beendet. Lärmend und lachend gingen die Externen heim. Die Haustür schlug zu.
Betrübt beobachtete Jankel, wie die Tür hinter dem letzten zufiel, wie der Diensthabende sie verschloß und die Kette vorlegte. Die sturen Böcke können herumspazieren und nach Hause gehen! dachte er niedergeschlagen und trottete in den Schlafraum. Dort empfing ihn ohrenbetäubender Lärm. Der Schlafraum war außer sich.
Als er in der Tür stand, fuhr Zigeuner auf ihn los. „Jankel, weißt du, wer uns verpfiffen hat?“
„Na?“
„Goga, der Halunke.“
Goga stand in der Ecke, von der rasenden Menge an die Wand gedrückt. Erschrocken und kraftlos wehrte er die Fäuste von seiner Nase ab. Jankel stürmte zu Goga hin.
„Du Schuft! Wie konntest du das tun, he?“
„A-a-aber, i-ich hab' es d-doch nicht absichtlich g-getan, Jungens!“ jammerte Goga. Flehend hob er die braunen Augen in dem Bestreben, sich zu rechtfertigen. „V-vikniksor hat mich z-zu sich g-geholt und g-gesagt: 'I-ich hörte, d-daß d-du den T-tabak gestohlen hast.' Und d-da d-dachte ich, ihr hättet es gesagt, und hab' es z-zugegeben. Und d-dann fragte er, w-wie wir den T-tabak gestohlen hätten. Und d-da hab' ich gesagt:,Z-zuerst sind Tschornych und K-kossorow hingegangen, d-dann Gromonoszew und z-zuletzt alle anderen.“
„Und z-zuletzt alle anderen!“ äffte Jankel den Stotterer nach. Aber es widerstrebte ihm, den Jungen zu verprügeln — erstens, weil er so dämlich hereingefallen war, und zweitens, weil er sowieso immer Mitleid erweckte.
Jankel spuckte aus, ging weg und warf sich auf seine Pritsche. Auch die anderen zerstreuten sich. Nur Goga blieb weiter in der Ecke stehen — als habe man ihn zur Strafe dahin gestellt. „Was soll nun werden?“ seufzte einer. Jankel wurde von Wut gepackt.
„Jetzt jault ihr mir die Ohren voll, ihr Trantüten! Was werden soll? Was wird, das wird, da gibt es nichts zu jammern. Wenn ihr hinterher flennt, hättet ihr vorher den Tabak nicht klauen sollen!“
„Wer hat ihn denn geklaut?“
„Ihr!“
„Nein, du!“
Jankel blieb die Spucke weg.
„Wieso ich? Ich hab' ihn für mich geklaut, das ging euch nichts an. Was hackt ihr jetzt auf mir herum?“
„Du bist der Anstifter.“ Es wurde still.
Am meisten quälte die Strolche das Bewußtsein, daß ihnen Strafe drohte. Sie barsten beinahe vor Wut. Bei dem geringsten Anlaß würden sie explodieren, sich auf den ersten besten stürzen und ihn verprügeln.
Hätten die Jungen die Strafe schon gekannt, wäre ihnen wohler zumute gewesen — Ungewißheit quält mehr als Erwartung. Zuweilen unterbrach ein trauriger Seufzer die Stille. Dann herrschte wieder nachdenkliches Schweigen.
Jankel lag da und starrte stumpfsinnig zur Decke empor. Er hatte keine Lust zum Nachdenken, außerdem fiel ihm auch nichts ein. Das Geseufze und Gestöhne machte ihn kribblig. „Weshalb haben wir bloß auf den verdammten Jankel gehört!“ brach Spatz schließlich das Schweigen. Seine Stimme klang so verzweifelt, daß Jankel es nicht mehr ertragen konnte. Er hatte das Bedürfnis, Spatz mit gehässigen, bösen Worten zum Weinen zu bringen. Aber er beschränkte sich auf die spöttische Bemerkung: „Setz dich Vikniksor doch auf den Schoß, Spätzchen, und bettle um Verzeihung!“ „Das würde ich auch tun, wenn du nicht wärst!“
„Dussel!“
„Selber einer! Stiftest alle an und liegst jetzt gleichgültig da.“ Jankel wurde wütend.
„Ach, du kurzbeiniger Halunke! Hab' ich dich vielleicht angestiftet?“
„Alle hast du angestiftet!“
„Tatsache, das hat er“, klang es von den anderen Betten. „Ihr seid Halunken, aber keine Kameraden!“ Jankel wußte nicht mehr, was er sonst sagen sollte.
„Mach mal halblang! Von wegen Halunken! Dafür kriegst du eins in die Fresse!“
„Haut mich doch!“
„Das machen wir auch! Du Katzenschinder!“
„Auf ihn mit Gebrüll!“ Das war die Stimme von Spatz. Jankel hörte sie dicht über sich. Er sprang aus dem Bett. „Gib es ihm, Spatz! Feste! Keine Angst, wir helfen dir!“
Die Sache nahm eine gefährliche Wendung. Und wer weiß, was die wütenden Schkider mit Jankel angestellt hätten, wenn der Direktor nicht in diesem Augenblick hereingekommen wäre. Die Jungen sprangen aus den Betten, setzten sich hin und senkten den Kopf. Grabesstille.
Vikniksor ging quer durch das Zimmer, blickte aus dem Fenster, trat dann mitten in den Raum, blieb stehen und sah die Zöglinge prüfend an. Niemand sagte ein Wort.
Ungewißheit quält mehr als Erwartung.
„Jungens!“ Seine Stimme klang ungewöhnlich laut. „Jungens, wir haben euer Vergehen eben im Pädagogischen Rat erörtert. Es ist abscheulich, niedrig, schurkisch — eine Tat, um derentwillen man euch samt und sonders wegjagen, ins Kloster, in die Besserungsanstalt, bringen müßte. Ja, ins Kloster, in die Besserungsanstalt!“ wiederholte Vikniksor, und die Schkider senkten noch tiefer den Kopf. „Aber so einfach haben wir uns die Entscheidung nicht gemacht. Wir haben das Problem gründlich erörtert und erst dann einen Beschluß gefaßt. Wir beschlossen…“
Die Schkider hielten den Atem an. Eine so gespannte Stille trat ein, daß ein zu Boden fallendes Streichholz wie ein Donnergetöse geklungen hätte. Die qualvolle Pause dauerte unerträglich lange. „Und wir beschlossen“, fuhr der Direktor endlich fort, „wir beschlossen… euch überhaupt nicht zu bestrafen…“
Die angstgeladene Stille hielt noch einen Augenblick an. Dann War sie wie abgeschnitten.
„Viktor Nikolajewitsch! Tausend Dank!“
„Wahrhaftig, Viktor Nikolajewitsch?“
„Allerherzlichsten Dank! Es wird nie wieder vorkommen!“ „Bestimmt nicht! Wir danken Ihnen!“
Die Jungen drängten sich um den Direktor, der ihnen plötzlich so gütig, so väterlich vorkam. Lächelnd stand er da und streichelte die gesenkten Köpfe.
Im Überschwang der Gefühle schluchzte plötzlich einer auf, ein zweiter, ein dritter taten es ihm nach, und dann brachen alle in Tränen aus.
Nur Jankel bewahrte noch die Fassung. Aber dann spürte er, daß auch ihm die Tränen kamen. Und es war ganz merkwürdig — er schämte sich ihrer nicht, im Gegenteil, sie schienen die drückende Angst vor der Strafe wegzuschwemmen, und ihm wurde auf einmal leicht ums Herz. Vikniksor schwieg.