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Olga Afanassjewna war sanft, still und gutmütig, scheinbar allzu gutmütig. Als sie sich dem Direktor als Anatomielehrerin vorstellte, musterte er sie ungläubig und unfreundlich. Sie würde wohl kaum mit seinen wilden Zöglingen fertig werden, glaubte er. Aber im Laufe der Zeit stellte sich das Gegenteil heraus. Was anderen Lehrern nur durch Drohungen und Strafen gelang, erreichte sie mühelos — ohne den geringsten Druck.

Sie sah zwar gebrechlich und kränklich aus, besaß jedoch einen unerschöpflichen Vorrat an Kaltblütigkeit. Sie schimpfte niemals, sie bedrohte niemanden. Trotzdem wurde sie schon nach einem Monat von allen Klassen geliebt, und überall erzielte sie gute Unterrichtserfolge.

Selbst die größten Faulpelze kamen voran.

Mamachen, Jankel und Spatz — eingefleischte Drückeberger — legten plötzlich großes Interesse für das menschliche Skelett an den Tag und zeichneten Wadenknochen und Scheitelbeine in ihre Hefte. Olga Afanassjewna verstand es, ihren Schülern die Liebe zum Wissen einzuflößen. Sie hätte viel erreicht, wenn nicht eine schwere Krankheit sie gezwungen hätte, die Schkid für einige Zeit zu verlassen.

Und blut'ge Knabendecken stehn vor mir…

Der Bürgerkrieg ging zu Ende. Ein Leben in Frieden begann. Überall in der Stadt wurden neue Klubs und Bildungshäuser eröffnet.

Auch im Kinderheim trug man sich mit diesem Gedanken. Die Jungen hatten reichlich freie Zeit, die vernünftig ausgenutzt werden konnte. Da tauchte Mirra Borissowna auf, eine rundliche, lebenslustige Jüdin. Sie kam an einem trüben, langweiligen Herbstabend in die Klasse und brachte gleich Leben in die Bude.

„Da bin ich, Jungens. Wir werden zusammen arbeiten.“

„Herzlich willkommen!“ Mamachen quittierte ihr Erscheinen mit einem mürrischen Gesicht. „Doch die Arbeit schlagen Sie sich aus dem Kopf. Damit kommen Sie nicht bei uns durch.“

„Weshalb nicht?“ Die Lehrerin war aufrichtig erstaunt. „Ist es denn so schlimm, ein nettes Stück einzuüben und es aufzuführen? Euch macht es Spaß und den anderen auch.“

„Oho! Ein Theaterstück? Haste dir gedacht!“

„Halt die Klappe, Mamachen! Das ist doch 'ne Wucht!“ widersprachen die anderen. Mit Feuereifer gingen sie an die Arbeit. Die Feiertage standen vor der Tür, und Mirra Boris — sownamußte sich mächtig beeilen. Sie verbrachte sogar all ihre freie Zeit in der Schkid.

Schnell waren die Stücke gewählt — der „Geizige Ritter“ und Auszüge aus „Boris Godunow“ von Puschkin. Abends kamen sie in der Klasse zusammen und probten.

Japs hatte zwei Monologe des Zaren Boris auswendig gelernt. Er trat mitten in die Klasse und eröffnete die Tragödie. Wenn er aber an die Stelle kam „Und blutbedeckte Knaben stehn vor mir…“, stockte er verwirrt. Sein schauspielerisches Temperament entschwand, und er schloß stotternd: „Und blut'ge Knabendecken stehn vor mir…“

„Jeonin! Wieder falsch!“ unterbrach ihn Mirra Borissownas sanfte Stimme nachdrücklich.

Japs weinte beinahe vor Wut und fing wieder von vorn an. Aber schließlich schaffte er es trotz alledem. Schnell vergingen die langen Schkid-Abende bei den Proben. Die Strolche liebten die lustige Lehrerin bald so, daß sie sich richtig nach ihr sehnten, wenn sie keinen Dienst hatte.

„Mirra ist da!“ klang es durch die ganze Schule, sobald ihr Halbpelz und ihr weicher Orenburger Schal auftauchten. Der Tag der Aufführung war für sie ein Triumph. Die Jungen spielten mit hinreißendem Schwung. Es war der schönste Abend, den die Schule je erlebt hatte, und nach der Vorstellung hatten die Schkider sogar eine Überraschung parat. Jankel, der einstimmig zum Ansager gewählt worden war, kam auf die Bühne und verkündete, daß die Darbietungen noch nicht zu Ende seien. Die Schüler hätten aus eigenem Antrieb ein Gedicht verfaßt, um ihre Lehrerin zu ehren. Dann las er vor:

Das grandiose Stück ist aus, doch bitte geht noch nicht nach Haus! Stimmt alle ein in unsern Ruf: Mirra Borissowna soll leben, weil sie die Schkider Bühne schuf!

Seit diesem Tage waren die Schkider und ihre Lehrerin noch unzertrennlicher als zuvor. Aber eines Tages — es war mitten im Winter — kam Mirra in die Schule und teilte verlegen mit, sie wolle heiraten und Leningrad verlassen. Die Trennung fiel den Jungen schwer, doch sie mußten sich damit abfinden. Die lustige Lehrerin in dem Soldatenhalbpelz verschwand für immer aus der Schkider Republik. Als Erinnerung hinterließ sie die Beziehung zu einer Bekannten, die in einem Filmtheater angestellt war und Mirras Schülern, Jankel und Japs, wöchentlich einmal Kinokarten verschaffte.

Das waren die Erlebnisse mit den beiden Erzieherinnen, die es verstanden hatten, in den schwererziehbaren Jugendlichen Anhänglichkeit und Wissensdurst zu erwecken. Die ganze Schule hatte sie geliebt. „Amöbe“ dagegen wurde verabscheut, obgleich er wohl sein Fach beherrschte.

Er war ein Mann in mittleren Jahren, häßlich von Gestalt und mit einer niedrigen Affenstirn. Er unterrichtete in Naturkunde, liebte sein Fach sehr und versuchte auf alle erdenkliche Weise, auch seinen Schülern diese Liebe einzuimpfen. Aber das gelang ihm kaum. Die Jungen haßten die Naturkunde genauso wie den Lehrer. Amöbes mürrische Pedanterie mißfiel ihnen besonders. In einer Unterrichtsstunde erzählte er zum Beispiel eifrig von den Mikroorganismen. Plötzlich bemerkte er, daß die letzte Bank, auf der Japs saß, mit anderen Dingen beschäftigt war. „Jeonin! Setz dich auf die vorderste Bank!“ befahl er ärgerlich. „Warum denn?“ fragte Japs erstaunt. „Jeonin, setz dich auf die vorderste Bank!“

„Ich sitze doch hier sehr gut.“

„Setz dich auf die vorderste Bank.“

„Was schikanieren Sie mich!“ quengelte Japs. „Setz dich auf die erste Bank!“ war die monotone Antwort. „Nein! Verdammter Prophet!“ schrie Japs wütend.

Amöbe überlegte eine Weile. Dann fing er wieder von vorn an. „Jeonin, geh aus der Klasse.“

„Warum?“

„Geh aus der Klasse.“

„Ja, wozu denn?“

„Geh aus der Klasse.“

Außer sich vor Wut stampfte Japs mit dem Fuß. Seine Knopfnase rötete sich. Die Augen quollen heraus.

„Jeonin, geh aus der Klasse!“ wiederholte Amöbe ungerührt.

Japs entlud sich in einem wilden Schwall von Schimpfworten.

He! Alnikpop!

„Amöbe! Dreimal verfluchter Prophet! Immer mußt du mich schikanieren, du Holzkopf!“ Amöbe hörte sich das gelassen an. „Jeonin!“ bestimmte er dann, „du reinigst heute die Toilette.“ Und damit gaben sich beide Parteien zufrieden.

Wegen dieser unheimlichen Ruhe war Amöbe bei den Schkidern so unbeliebt. Aber niemand bezweifelte seine Ehrenhaftigkeit; er wurde gefürchtet und geachtet.

Doch die ausgeprägtesten Charaktere, die besten Erzieher, auf die sich die Schule stützen konnte, waren die beiden Propheten Alexander Nikolajewitsch Popin und Konstantin Alexandrowitsch Medowitsch, abgekürzt Alnikpop und Kostalmed genannt.

Sie kamen fast gleichzeitig in die Schkid und arbeiteten sich schnell aufeinander ein.

Alnikpop war nicht mehr jung, klein, munter und dick, hatte eine hohe Stirn und einen Ansatz zur Glatze, ein schwarzes Darlehen und eine wendige Gestalt. Auf seiner Nase saß ein Zwicker mit zersprungenen Gläsern. Außerdem besaß er einen wahrhaft unerschöpflichen Vorrat an Energie, Kraft, Wissen und Erfahrung. In der ersten Zeit war er recht unbeliebt. Wenn seine untersetzte Gestalt in der alten Lederjacke irgendwo auftauchte, stürzten sich die Schkider auf ihn, um ihn zu piesacken. In den Pausen heftete sich eine ganze Horde von Banditen an seine Fersen und schmetterte alle möglichen Spottverse, die von den älteren Schülern verfaßt worden waren.