Daneben hockten der einäugige Mamachen, Brotkanten, Kossar und Goga zusammen.
Sie waren in das Bindfadenspiel vertieft.
Sie hatten sich einen Bindfaden über die Finger gespannt, nahmen ihn sich gegenseitig ab, bildeten daraus kunstreiche Figuren und entwirrten sie wieder mühevoll.
Plötzlich spitzten alle, die in der Klasse saßen, lauschend die Ohren. Im oberen Stockwerk war etwas los. Dutzende von Füßen trampelten über ihren Köpfen. Die Wände ächzten, Kalk rieselte von der Decke. „Sie haben eine Ratte gefangen!“ schrie Mamachen erfreut. „Eine Ratte!“ fielen die anderen ein und rannten nach oben. Im Saal herrschte ein wildes Durcheinander.
In der Mitte wirbelte Spatz herum. Er hielt den langen Strick fest, an dessen Ende eine große graue Ratte zuckte. An den Wänden drängten sich die Schkider.
„Jetzt laß ich sie laufen, und ihr müßt sie fangen!“ kommandierte Spatz.
Er bückte sich flink und schnitt dicht über dem Hals der Ratte den Strick durch.
Ein Triumphgeheul brach los.
Von dem fürchterlichen Lärm betäubt, raste die Ratte durch den Saal, aber sie fand kein Versteck.
Johlend und kreischend setzten ihr die Schkider zwischen den Bänken nach, um sie zu zertrampeln. „Hohoho! Fang sie!“ „Hinei-i-in!“
„Haut sie!“
„Drauf treten!“
Der Saal erbebte bei dem Gestampf und Gebrüll. Leise klirrten die Scheiben in den hohen Schulfenstern. „He-he-he-he! Fang sie! Fang sie!“ „Von links ran!“„Mit dem Fuß! Mit dem Fuß!“
„Los!“
Die Saaltüreii waren fest geschlossen, die Löcher verstopft. Jeder Rückzugsweg war dem grauen Vieh abgeschnitten. Vergebens bohrte es die spitze Nase in die Ecken. Überall nichts als Wände. Mamachen fühlte sich als Held des Tages. Er schnitt der gehetzten Ratte den Weg ab und setzte ihrem Leben mit einem energischen Fußtritt ein Ende.
Mit stolzgeschwellter Brust blickte Mamachen auf die Jungen, die ihn umdrängten, denn er rechnete auf Lobpreisungen. Doch er erntete nichts als zorniges Gebrumm, den anderen war das interessante Spiel viel zu früh zu Ende. „Blöder Angeber!“ „Idiot! Warum hast du sie jetzt schon abgemurkst!“
„Du denkst wohl, du hast dich mit Ruhm bekleckert! So was hätte jeder fertiggebracht!“
Mißmutig gingen die Schkider auseinander.
Im Klassenraum hatte Bober unterdessen das flotte „Hei, hei, Petrograd“ zu Ende gesungen und war zu schwermütigeren Tönen übergegangen:
Dann wollte er die „Trennung“ anstimmen, aber ein Gähnkrampf unterbrach ihn.
„Wollen wir nicht ein bißchen tanzen?“ schlug er gelangweilt vor. „Das könnte man machen!“ Zigeuner nickte. „Ja, los!“ fiel Jankel ein.
„Los! Tanzen!“ Auch die anderen waren Feuer und Flamme. Jankel raste davon, um Alnikpop zu suchen, fand ihn auf dem Korridor und bettelte: „Spielen Sie uns doch einen Walzer, Onkel Serjosha, ja? Und vielleicht noch was!“ Im Weißen Saal hatte sich die gesamte erwachsene Bevölkerung der Republik versammelt. Wie bei einem richtigen Ball wählten die Schkider ihre Tanzpartner, und dann stellten sich die Paare feierlich hintereinander auf.
Alnikpop legte verträumt den Kopf zurück und griff in die Tasten. Unter den Klängen des Donauwalzers drehten sich die Paare im Kreise. Eigentlich konnte nur ein Paar — Zigeuner und Bober — richtig tanzen. Die übrigen trampelten bloß im Kreise und schubsten sich. „Signori! Mesdames! Einen Walzer! Wiegt euch, dreht euch, schaukelt euch rum!“ quietschte Jankel, umschlang graziös seine Dame — Japs — und trat ihr zärtlich auf den Fuß.
Japs verzog schmerzhaft das Gesicht, stampfte aber unverdrossen weiter.
„Verdammt! Eine Viertelstunde drehen wir uns schon auf dem gleichen Fleck!“ stellte er verblüfft fest.
Der Walzer wurde von einem Foxtrott abgelöst, der Foxtrott von einem Tango.
Allmählich brandete die Fröhlichkeit über die kühlen, weißen Saaltüren hinaus.
Gerade als die Schkider in fessellosem Feuer einen Krakowiak mit den durchlöcherten Staatsstiefeln aufs Parkett hämmerten, tat sich die Tür auf, und Vikniksor stand auf der Schwelle. „Jungens!“
Erschrocken jaulte der Flügel auf und verstummte mitten im Akkord. Die Paare stutzten, hörten auf zu stampfen und machten halt. Der Direktor machte ein merkwürdig feierliches Gesicht. „Jungens!“ wiederholte Vikniksor, nachdem es vollkommen still geworden war. „Kommt sofort alle in den Eßraum. Wir wollen eine allgemeine Schulversammlung abhalten.“
Aufgeregt summten die Stimmen in dem halbdunklen Eßraum. Es roch nach Seehundstran.
Die kahlrasierten Köpfe drehten sich eifrig hin und her, und auf allen Gesichtern stand die Frage: Was ist geschehen? Eine Schulversammlung war für die Schkider etwas Neues. Das erlebten sie zum erstenmal. Alle warteten ungeduldig auf Vikniksor. Was würde er sagen? Endlich trat der Direktor ein. Minutenlang betrachtete er die Kinder, dann winkte er einen Erzieher heran.
„Sergej Iwanowitsch!“ sagte er laut. „Sie sind heute Schriftführer. Die Jungen wissen mit der Selbstverwaltung noch nicht Bescheid.“ Schweigend nahm der Erzieher Platz, legte ein Blatt Papier vor sich hin und wartete ab. Vikniksor kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. Dann richtete er sich auf.
„Kinder!“ begann er. „Bisher herrschte in unserer Schule noch kein richtiges Leben…“ Er unterbrach sich. „Moment, ich hab' den Anfang vergessen. Also, hiermit erkläre ich die erste allgemeine Schul-versammlung für eröffnet. Heute werde ich den Vorsitz führen, und Sergej Iwanowitsch schreibt das Protokoll. Auf der Tagesordnung steht mein Vortrag über die Selbstverwaltung der Schule. Ich beginne.“ Die Schkider schwiegen argwöhnisch. Sie warteten ab, was ihr Steuermann ihnen zu sagen hatte.
„Ich bitte um Aufmerksamkeit. Was ist unsere Schule? Sie ist eine kleine Republik.“
„Wohl eher eine Monarchie“, flüsterte Japs ironisch dazwischen. „Unsere Schule ist eine Republik, aber in einer Republik hat das Volk immer die Macht in der Hand. Bei uns war das bisher noch nicht der Fall. Einerseits hatten wir die Zöglinge, andererseits die Erzieher, die ich leitete. Dadurch wurde unsere Verfassung gewissermaßen gestört.“
„Richtig!“ rief eine unterdrückte Stimme aus dem Rudel der Schkider. Vikniksor runzelte drohend die Stirn, beherrschte sich aber.
„Jetzt wird das anders“, fuhr er fort. „Ich möchte euch meinen Plan auseinandersetzen. Die Schule muß mit dem Leben Schritt halten, und darum wollen wir in unserem Kollektiv die Selbstverwaltung einführen.“
„Oho!“
„Prima!“
Die Schkider waren verblüfft.
„Ja, die Selbstverwaltung. Ist euch dieses Wort etwa unbekannt? Ich will euch das System der Selbstverwaltung erläutern. Heute wählen wir die Ältesten aus für die Klassen, die Schlafräume, die Küche und die Garderobe. Sie sind verpflichtet, die Diensthabenden zu bestimmen, und zwar für einen Tag. Heute hat der erste Dienst, morgen der zweite, übermorgen der dritte und so weiter. Auf diese Weise werdet ihr im Laufe der Zeit alle in das gesellschaftliche Leben der Schule einbezogen. Verstanden?“
„Natürlich!“
„Gut. Die Ältesten wählen wir für einen Monat oder für zwei Wochen. Aber damit ist es noch nicht getan. Die Küchen- und Garderobenältesten müssen kontrolliert werden. Hierzu wählen wir drei Revisoren, deren Arbeit ich kontrollieren werde. Einverstanden?“
„Klar! Einverstanden!“ klang es zurück.
„Auf diese Weise haben wir die Möglichkeit, Diebstähle und sonstige Unredlichkeiten zu verhindern.“
„Aha! Richtig!“
Vikniksor fühlte sich äußerst wohl in seiner Haut. Es kam ihm vor, als hätte er eine richtige Heldentat, eine diplomatische Meisterleistung vollbracht. Es drängte ihn zu weiteren Verkündigungen. „Außerdem wird der Pädagogische Rat den Ältestenrat einberufen, damit die von euch gewählten Schülervertreter alle wesentlichen Maßnahmen für die Schule und ihre weitere Arbeit gemeinsam mit uns erörtern können.“