„Na, dann schreib doch, wenn du es nicht lassen kannst, Prophet!“ Damit verließ Japs den Raum.
Das Mittagessen war zu Ende, aber Kusja konnte das Brot in Slajonows Tasche noch immer nicht vergessen. Er wich ihm nicht von der Seite.
Als die Jungen in die Klassen hinaufgingen, hielt Slajonow plötzlich Kusja zurück.
„Weißt du was?“
„Na?“ Kusja spitzte die Ohren.
„Ich gebe dir jetzt meine Brotportion. Und dafür kriege ich deine vom Abendtee.“ Kusja runzelte die Stirn.
Japs kämpfte einen Augenblick mit sich.
„Du Gauner! Zum Abendtee gibt es ein Viertelbrot, und du willst mir jetzt ein Achtel andrehen.“ Slajonow änderte sofort den Ton.
„Wie du willst. Ich zwinge dich schließlich nicht dazu.“ Er hatte das Brot schon hervorgeholt. Jetzt steckte er es wieder in die Tasche.
Kusja schwankte. Nimm es nicht! Nachher mußt du noch mehr hungern! warnte ihn seine Vernunft. Aber der Hunger war stärker — er siegte.
„Gib es her, zum Teufel!“ schrie er, als er sah, daß Slajonow in den Saal gehen wollte.
„Spinne“ machte sofort kehrt und steckte Kusja das Brot in die ausgestreckte Hand.
„Du bist mir also dein Abendbrot schuldig“, sagte er gelassen. Kusja wollte ihm das unheilvolle Brot zurückgeben, aber seine Zähne hatten sich schon hineingegraben.
Abends betätigte sich Kusja mit knurrendem Magen als Zahnmusiker. Das Brot, das er zum Abendessen bekommen hatte, war in Slajonows Tasche gewandert. Er hatte unbeschreiblichen Hunger, konnte aber nirgendwo etwas Eßbares auftreiben. Er war der schüchternste, gedrückteste Junge aus der zweiten Abteilung — deshalb brachte er es nicht fertig, sich Brot oder sonst etwas zu verschaffen. Andere wären auf den Gedanken gekommen, die Küche nach Essenresten zu durchstöbern, aber Kusja vermochte sich nicht dazu aufzuraffen. Er war die verkörperte Demut und Erniedrigung. Kaum zu glauben, daß er früher Einbrüche und Gewalttaten begangen haben sollte! Aus reiner Demut schien er eine fremde Schuld auf sich genommen zu haben, die er nun in der Schkid büßte.
Neben ihm saß Korenow, sein Blutsbruder, am Tisch und schmatzte, daß es Kusja übel wurde. Korenow schien überhaupt nicht zu merken, daß sein Freund kein Brot hatte. „Gib mir einen Happen, ja?“ bettelte Kusja zaghaft.
„Wo hast du denn dein Brot?“ fuhr Korenow ihn an.
„Ich war es dem Neuen schuldig.“
„Wieso?“
„Na, gib mir doch ein Stück!“
„Nein, tu ich nicht.“ Korenow schmatzte weiter.
Der gequälte Kusja faßte einen Entschluß. Er wandte sich quer über den Tisch an Slajonow.
„Leih mir eines bis morgen. Bis zum Morgentee.“
Slajonow blickte gleichgültig auf, holte dann Kusjas Viertelbrot aus der Tasche, brach es mitten durch — der ganze Tisch war Zeuge — und warf Kusja die eine Hälfte hin. Die andere Hälfte steckte er sorgfältig wieder in die Tasche.
„He, warte! Gib mir das Brot!“ rief Sawuschka dazwischen. Er hatte seine Portion schon lange verdrückt und war noch immer nicht satt.
„Gib es mir. Du kriegst es morgen wieder“, wiederholte er. „Dafür bekomme ich aber deine ganze Morgenportion“, warnte ihn Slajonow kaltblütig, während er ihm die andere Hälfte von Kusjas Brot reichte.
„Klar, mach' ich. Keine Sorge.“
Am nächsten Tage hatte Slajonow nach dem Morgentee zwei Viertelbrote übrig. Eines lieh er den Hungermäulern Sawuschka und Kusja, das zweite verkaufte er an einen Jungen aus der ersten Abteilung. Das gleiche passierte beim Mittag-und beim Abendessen.
Slajonows Einkommen wuchs. Zwei Tage später leistete er sich bereits einen Luxus — er kaufte sich für ein Achtelbrot ein Notizheft, um seine Schuldner einzuschreiben. Ihre Zahl vergrößerte sich mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit. Schon am nächsten Tage verdoppelte er seine Lebensmittelration, und nach einer Woche hatte er in seiner Bank einen Brotvorrat angelegt. Er war plötzlich aus einem kleinen, unauffälligen Neuling zu einer gewichtigen Autorität geworden.
Er begann, seine Mitschüler überheblich anzufauchen. Sie schwiegen dazu und schnallten den Riemen enger.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig — die ganze erste und die halbe zweite Abteilung waren bereits an ihn verschuldet. Slajonow lief niemals mehr allein herum. Er war dauernd umschwänzelt von einem ergebenen Schuldnergefolge, dem er ab und zu gnädig ein Stückchen Brot spendierte.
Doch er ging sparsam mit seiner Gnade um. Er hatte nicht die Absicht, die Kameraden zu mästen, hielt aber die Almosen für notwendig, um ihre Wut einzudämmen.
Mit jedem Tage verstrickten sich Slajonows Opfer immer tiefer in ihre Schulden. Im gleichen Maße wuchs die Macht des „großen“ Wucherers, wie ihn die älteren nannten.
Doch sein Einfluß reichte nicht über die zweite Abteilung hinaus. Die mächtigsten und standfestesten Abteilungen — die dritte und die vierte-sahen ihn verächtlich über die Schulter an. Sie hielten es für unter ihrer Würde, sich um ihn zu kümmern. Slajonow erkannte die Gefahr dieser Situation genau. Jeden Augenblick konnten die beiden Klassen — oder auch nur eine von ihnen — sein florierendes Geschäft ruinieren. Das paßte ihm gar nicht. Er ersann deshalb einen Plan, der so gerissen war, daß selbst die Schlauköpfe aus der vierten Abteilung nicht dahinterkamen und ihm auf den Leim gingen.
Eines Tages erschien er in der vierten Abteilung und spazierte scheinbar gelangweilt im Zimmer umher.
Die „Großen“ reagierten auf derartige Frechheiten recht empfindlich. Ein Junge aus der ersten Abteilung wagte es, entgegen dem alteingeführten Brauch, sich ohne besonderen Grund in ihrer Klasse herumzutreiben? Er war für sie durchaus noch keine Autorität. Sie warfen ihm böse Blicke zu.
„Was willst du hier?“ fauchte Zigeuner. Slajonow duckte sich erschrocken. „Gar nichts, Zigeuner! Ich bin bloß mal hergekommen.“
„Ach? Und wer hat dir das erlaubt?“
„Niemand.“
„So, niemand! Dann verdufte, da ist die Tür! Und laß dich hier ohne Grund nicht wieder blicken.“
„Ja, aber…“, stotterte Slajonow, „ich… dachte nur… ich… wollte…“
„Was dachtest du?“
„Ich dachte, daß ihr Hunger hättet. Willst du ein Stück Brot, Zigeuner, ja? Ich weiß sowieso nicht, wohin damit.“ Zigeuner starrte Slajonow ungläubig an. „Na, dann zeig mal her.“
Bei dem Wort „Brot“ sahen die anderen auf und spitzten die Ohren. Slajonow zog seelenruhig ein Viertelbrot aus der Tasche und drückte es Zigeuner in die Hand. Japs ging zu Slajonow hin. „Hast du noch mehr?“
Spinne holte mit harmlosem Gesicht ein weiteres Viertel aus derTasche. „Nimm es nur. Ich geh' es gern.“
„Gib mir auch was!“ Spatz lief herbei. Auch Mamachen und Brotkanten waren aufgesprungen. Slajonow gab jedem ein Stück.
Als jedoch Elster und Goga hinzutraten, runzelte er die Stirn. „Das Brot ist alle!“ sagte er verächtlich. Er wußte genau, daß Elster und Goga keinen Einfluß hatten, und hielt es deswegen für überflüssig, sie zu spicken.
Die Jungen behandelten Slajonow nun schon mit herablassender Freundlichkeit.
„Jetzt verschwinde, aber du kannst häufiger kommen“, grinste Zigeuner. Und weil er auf den Geschmack gekommen war, fügte er hinzu: „Wenn wir ein bißchen Süßstoff hätten, könnten wir jetzt Tee trinken.“
„Ich hab' welchen!“ Slajonow war entschlossen, die Großen restlos für sich zu gewinnen. „Wer will was?“
„Das ist ein Ding!“ staunte Japs. „Wir könnten also tatsächlich Tee trinken.“
Slajonow traf bereits seine Anordnungen.
„He, Kusja, Korenew! Holt Tee aus der Küche. Leiht euch die Becher bei Marta. Ihr müßt sagen, daß die Großen darum bitten.“ Kusja und Korenew hatten an der Tür gewartet. Sie rannten spornstreichs in die Küche.