Fünf Minuten später ging es in der vierten Abteilung hoch her. In den Blechbechern dampfte der Tee, auf den Bänken lagen Brot und Süßstoff. Die Jungen schmatzten hingebungsvoll, während Slajonow in der Klasse umherspazierte.
„Laßt es euch schmecken, Leute“, schwatzte er händereibend.
„Für gute Kameraden ist mir nichts zu schade. Euch helfe ich immer. Wenn ihr mal Hunger kriegt, könnt ihr nach mir schicken. Ich habe immer was da. Und geizig bin ich auch nicht.“
„Klar. Nur keine Sorge, wir vergessen dich jetzt nicht!“ Japs nickte ihm zu und stopfte sich den Mund voll. So wurde die vierte Abteilung überrumpelt. Nun konnte sich Slajonow endgültig beruhigen. Zwar war die Versorgung nahezu der ganzen Klasse anfangs ein großes Verlustgeschäft für ihn, aber dafür gewöhnte er die Großen allmählich an sich. Zu jener Zeit stellte das Brot eine Macht dar. Slajonow besaß Brot, deshalb gehorchte man ihm.
Unmerklich brachte er es fertig, die Großen in seine Leibgarde zu verwandeln, sich ein neues mächtiges Gefolge zu verschaffen. Anfangs wurde das den Großen überhaupt nicht bewußt. Sie gewöhnten sich daran, daß Slajonow zu ihnen gehörte. Sie glaubten, Slajonow gehorche ihnen und nicht umgekehrt. Doch eines Tages belauschte Zigeuner ein Gespräch zwischen zwei Jungen aus der ersten Klasse. Es hatte einen so verächtlichen Ton, daß er stutzig wurde. „Weißt du“, verriet er Japs am gleichen Tage, „wie uns die Kleinen nennen? Lakaien! Wir dienen Slajonow, sagen sie.“
„Sie haben recht, die Halunken!“ Japs runzelte niedergeschlagen die Stirn. „So sieht es jetzt aus. Wir sind zu Lakaien geworden, ohne es zu merken. Eine ekelhafte Situation, aber wie wollen wir damit Schluß machen? Das Reptil hat uns an das satte Leben gewöhnt!“ Bald hatten sich die Großen mit ihrer neuen Rolle abgefunden. Jetzt unterdrückten sie bewußt jeden Gedanken an ihre Erniedrigung. Jankel war der einzige, der seine Unabhängigkeit bewahrt hatte. Er stand mit dem Wucherer auf Kriegsfuß. Das Brot gab ihm die Kraft zum Widerstand. Er war Küchenältester und vermochte dem Reichtum Slajonows seinen eigenen entgegenzustellen. Aber insgeheim empfand er so etwas wie Achtung vor der Wucherspinne. Ihm imponierte die Klugheit, mit der sich Slajonow die Schkid unterworfen hatte. Er erkannte, wie geschickt der Bursche war, er beneidete ihn sogar ein wenig, verschwieg das aber sorgfältig. Slajonow rüstete sich inzwischen zum letzten Sturmangriff. Er wollte seine Macht endgültig sichern. Unbesiegt war bisher noch die dritte Abteilung, die er ebenfalls in die Hand bekommen mußte. Sie wie die vierte zu füttern, würde verlustreich und daher unvorteilhaft sein, sie wie die erste in Schulden zu verstricken, würde nicht gelingen. Die Jungen von der dritten waren nicht so dumm, daß sie ein Viertelbrot für ein Achtel hergaben.
Aus diesem Grunde fuhr er ein ganz neues Geschütz gegen die dritte Abteilung auf.
Nach dem Unterricht versammelten sich die Schkider gewöhnlich in ihrem „Klub“, um zu plaudern und zu rauchen.
Sie besaßen zwei „Klubs“-dieToilette im ersten Stock und die im Erdgeschoß. Aber die obere war besser — geräumig, ziemlich hell und einigermaßen sauber.
Die Badewanne, die früher darin gestanden hatte, war inzwischen verschwunden. Nur die Korkwände und die Fußbodenkacheln waren noch da. Hier konnte man die Zeit gemütlich verbringen, solange man wollte, und hier konnte man auch rauchen — meistens, ohne erwischt zu werden. Deshalb herrschte in den Toiletten immer ein munteres Leben und Treiben.
Im Schein des Ecklämpchens wölkte sich der Rauch. Es war verdächtig warm. In ihre angeregten Unterhaltungen vertieft, achteten die Schkider nicht auf den Geruch.
Das Herumstehen in den Toiletten kam dermaßen in Mode, daß die Propheten trotz aller Bemühungen mit diesem Übel nicht fertig wurden. Wenn ein Erzieher die Jungen hinausjagte und sich nur einen Augenblick entfernte, strömten sie wieder hinein, bis alles proppenvoll war.
In der oberen Toilette setzte Slajonow nun zum Angriff auf die unabhängige dritte Abteilung an.
Er trat ein, als gerade Hochbetrieb war, und schwenkte harmlos ein Kartenspiel in der Luft. „Wer will mit mir Siebzehn-und-vier spielen?“ Niemand reagierte.
„Wer spielt mit? Um das Brot vom Abendessen“, wiederholte Slajonow.
„Türke“, ein waghalsiger, magerer Junge aus der dritten Abteilung, nahm die Herausforderung an. „Ich mach' mit. Fang an.“
Eilfertig mischte Slajonow die verschmierten Karten. Die anderen Jungen sammelten sich um die Spieler. Jeder sah Türke erwartungsvoll an. Alle wünschten Slajonow eine Niederlage. Türke nahm die Karten auf, bis er achtzehn Punkte beisammen hatte. Dann hielt er inne.
„Ich hab' genug. Jetzt du“, murmelte er. Slajonow griff nach den Karten. Die erste war ein König, die zweite ein As. „Fünfzehn Punkte!“ flüsterten die Zuschauer aufgeregt.
„Kaufst du weiter?“ erkundigte sich der Türke besorgt. „Natürlich!“
Ein König!
„Neunzehn Punkte. Das reicht.“
Türke hatte verloren.
„Noch ein Spiel um das Frühstücksbrot von morgen!“ schlug Slajonow wieder vor.
„Laß das, Türke!“ griff der dicke Ustinowitsch, der Vernünftigste aus der dritten Abteilung, ein. „Spiel nicht weiter.“ Doch Türke war bereits von der Spielleidenschaft gepackt. „Geh zum Teufel! Ich spiele ja nicht um dein Brot,“ Türke verlor wiederum.
Die nächsten Spiele hatten ein fieberhaftes Tempo. Das Glück wechselte von einem zum ändern.
Türke hatte zuviel Temperament, um jetzt noch aufhören zu können, und so ging das Spiel weiter — nur unterbrochen von den Unterrichtsstunden und dem Abendessen.
Danach spielten sie und spielten. In der dritten Abteilung herrschte wilde Erregung. Immer wieder stürzten Boten in die Klasse und verkündeten den letzten Stand der Dinge. Es hatte bereits zum Schlafengehen geklingelt, aber das Spiel ging weiter. In den Schlafräumen bauten die Kameraden vorsorglich die Decken und Kissen der Spieler so zurecht, daß es aussah, als lägen sie darin.
Alle wünschten Slajonow eine Niederlage.
Am nächsten Morgen wurde bekannt, daß Türke Kopf und Kragen verspielt halte: In der einen Nacht hatte er seine Brotportionen für zwei Wochen an Slajonow verloren!
Kurz danach passierte Ustinowitsch dasselbe. Und nun brach eine zügellose Spielsucht aus. Wie eine ansteckende Krankheit verbreitete sich die Spielleidenschaft in der Schule, und zwar hauptsächlich in der dritten Abteilung. Zuweilen konnten sich kleine „Könige des Spiels“ einen Tag oder zwei Tage gegen Slajonow halten, aber zuletzt überwältigte er sie immer. Ob er bloß Glück im Spiel hatte, oder ob er mogelte? Jedenfalls gewann er dauernd. Es dauerte nicht lange, und er hatte die dritte Abteilung fast ausnahmslos in der Hand.
Jetzt bezahlten ihm Dreiviertel der Schüler Brotschulden. Slajonows Einfluß wuchs unaufhaltsam. Er wurde der mächtigste Mann der Schkid. Dauernd war er von einer Eskorte der Großen begleitet, und sein breites Gesicht strahlte vor Wohlbehagen. Für die Schkid war es eine denkwürdige Zeit. Täglich veranstaltete Slajonow Feste in der vierten Abteilung, bei denen er seine Leibgarde abfütterte.
Der Bausch seiner hemmungslosen Baffgier vergrößerte nur noch seine Macht. Die Schkider stöhnten vor Hunger, aber die von Freßgier besessenen Großen kümmerten sich nicht darum. Jeden Tag lieferte die halbe Schule ihr Brot an die kleine, fette Spinne ab, die dafür Geld, Wurst, Butter und Bonbons eintauschte. Dazu hielt sich Spinne ein Heer von Agenten.
Der Hunger produzierte in der Schkid einen neuen Stand — die Knechte.
Die ersten „Knechte“ waren Kusja und Korenow. Sie hungerten dauernd und waren für ein Stück Brot bereit, alles zu tun, was man ihnen befahl. Und Slajonow konnte befehlen.
Er tat nichts mehr allein. Wenn er Holz sägen sollte, mietete er sich einen Ersatzmann, der für ein Stück Brot seine Arbeit verrichtete. Bei anderen Gelegenheiten machte er es ebenso.