Выбрать главу

Dann standen die Jungen vor dem vertrauten gelben Haus der Schkid. Das Herz tat ihnen weh.

Sie gingen über den Hof und stiegen zum ersten Stock hinauf. Der Pförtner öffnete ihnen die Tür.

Überlaut hallten ihre Schritte in den leeren Räumen. Merkwürdig wirkte die tote Leere der Klassenzimmer; im Winter war es dort keine Minute lang still gewesen. Immer hatten die Jungen gejohlt, gelacht, gesungen, mit den Klapptischen gelärmt.

Vikniksor überließ die beiden sich selbst und ging in sein Arbeitszimmer.

Jankel und Japs sahen sich an. Es war ihnen sowieso schwergefallen, die Schkid, an die sie sich so gewöhnt hatten, zu verlassen. Aber jetzt schien es ihnen ganz unerträglich zu sein, besonders als sie die wohlbekannten Schulbänke erblickten und die Inschriften, die mit dem Taschenmesser hineingraviert waren: „Jankel ist doof!“ — „Japs hat einen Klaps.“

Die einstmals beleidigenden Worte wirkten plötzlich äuß erst reiz voll. Lange waren die Jungen in die Betrachtung vertieft. „Das hat Spatz eingeschnitten!“ murmelte Jankel schließlich gerührt. „Ja, der war das!“ pflichtete Japs verträumt bei. Dann sah er seinen Kameraden an. „Wollen wir es versuchen?“ fragte er. „Vielleicht läßt er uns hier.“ Jankel begriff.

Schritte näherten sich. Vikniksor trat ein. Er warf einen sachlichen Blick auf den Raum.

„Die Bänke sind verstaubt“, sagte er. „Holt euch einen Lappen und wischt sie gründlich ab.“

Die Jungen flitzten in die Küche, tauchten mit nassen Lappen wieder auf und stürzten sich auf die Bänke.

Als die Säuberungsaktion beendet war, faßten sie den festen Entschluß: „Wir gehen jetzt zu Vikniksor und versuchen es.“ „Herein!“ war die Antwort auf ihr zaghaftes Klopfen.

Beim Anblick der Jungen stand Vikniksor auf.

„Viktor Nikolajewitsch, können Sie uns nicht vielleicht hier lassen?“ flehte Jankel.

„Vielleicht hier lassen?“ echote Japs.

Vikniksor sah streng über sie hinweg. Seine Lippen zuckten. „Ja, ihr könnt hierbleiben“, erwiderte er ruhig. „Die ganze Schule hat sich für euch verbürgt. Ich brachte euch nur her, damit ihr die Räume sauber macht, bevor die anderen kommen. Sie ziehen morgen vom Erholungsheim um.“

Der Einzug der Schkid vollzog sich recht geräuschvoll. Als die Straßenbahnwagen vor dem Hause hielten und die Jungen mit dem Ausladen begannen, wurden sie von den Straßenbengeln umringt. „He-he-he! Die Anstaltsratten sind wieder da!“

„Guckt die Ratten an!“

„He, ihr Hungerleider! Rattenstrolche!“ Empört stürzte sich Spatz auf den Wortführer. „Was hast du gesagt, du Schwein? Wiederhol das mal!“ Der andere grinste, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sich nach seinen Kumpanen um. „Was ich gesagt hab', hab' ich gesagt.“

„Wiederhol es doch!“

„Hungerratten!“

Im nächsten Augenblick war Spatzens Faust lautlos auf der Nase des Gegners gelandet. Das Blut spritzte. „Was? Unsere Leute verprügeln?“

Die Straßenjungen stürzten sich auf Spatz und schlugen ihn zu Boden, aber der Entsatz ließ nicht auf sich warten. Die Schkider waren in der Überzahl. Sie schlössen einen Kreis, und eine handfeste Prügelei begann. Die Straßenjungen waren in einer mißlichen Situation. Sie sahen sich von einer undurchdringlichen Mauer eingeschlossen. Anfangs schlugen sie sich mit dem Mut der Verzweiflung. Als jedoch die Hälfte ihrer Prügelhelden am Boden lag, kämpfte die zweite Hälfte nicht mehr, sondern schützte sich nur vor den Schlägen, die auf sie niederprasselten. „Au! Aua!“

„Aufhören!“

„Hau mich nicht!“

Doch die Schkider waren zu wütend, als daß sie sich um das Gestöhn kümmerten. Erbarmungslos hämmerten ihre Fäuste auf die Köpfe der Gegner ein.

Erst Vikniksor, der aus dem Fenster gesehen hatte, daß sich seine Zöglinge prügelten, machte dem Kampf ein Ende. Zornig rannte er auf die Straße. Bei seinem Anblick spritzten die Schkider auseinander. Nur die verbleuten Gegner und Spatz, der so zugerichtet war, daß er nicht mehr weglaufen konnte, lagen noch auf dem Schlachtfeld. Der Zwischenfall blieb nicht ohne Folgen. Als die Schkider die Sachen ausgepackt und die Möbel aufgestellt hatten, bekamen sie Ausgangsverbot. Sie ließen den Kopf hängen, sie versuchten zu protestieren, aber der Befehl wurde nicht rückgängig gemacht. Und am nächsten Tage sahen sich die Gesetze der Schkid um zwei Paragraphen bereichert. Eine allgemeine Versammlung fand statt, zu der Vikniksor mit einem gewaltigen Buch unter dem Arm erschien. Dem Publikum stockte der Atem. Entsetzt starrte es auf die dicke Schwarte mit dem schwarzen Kalikoeinband. Der Direktor hob das Buch hoch, schlug es auf und zeigte der Versammlung die erste Seite, auf der in eindrucksvollen Großbuchstaben geschrieben stand:

CHRONIK DER DOSTOJEWSKI-SCHULE

„Jungen!“ begann Vikniksor feierlich. „Von heute an führen wir eine Schulchronik. In ihr zeichnen wir euer Benehmen auf, eure Schandtaten und dummen Streiche, damit sich die Lehrer über eure Führung orientieren können. Vermeidet es also, in die Chronik zu kommen. Es ist ein Buch der Schande, das wir ungern aufschlagen werden. Dennoch bin ich heute gezwungen, in eurer Gegenwart die erste Eintragung vorzunehmen.“

Vikniksor zog einen Bleistift hervor. Und während er jedes Wort laut mitsprach, schrieb er auf das unschuldige weiße Papier: „Tschornych wurde bei dem Versuch ertappt, staatseigene Farben zu stehlen.“

Stummblickten die Jungen Jankelan Jankel schlug die Augennieder. Ihm war nicht klar, ob er über die Tatsache, daß sein Name nun als erster in dem historischen Dokument stand, jubilieren oder trauern sollte. Indessen konnte er Vikniksor nicht widersprechen. Am Abend zuvor, als die Sachen ins Haus getragen wurden, hatte er mit größtem Eifer zusammengerollte Kissen und Decken, Bücherpacken, Geschirr und anderes Schuleigentum die Treppe hinaufgeschleppt. Im Korridor, vor dem Lehrerzimmer, war ein Paket aufgegangen, und zwei schon benutzte Farbtuben waren herausgefallen. Hätte es sich um etwas anderes gehandelt, wäre Jankel vielleicht standhaft geblieben. Doch dieser Verlockung hatte sein Künstlerherz nicht zu widerstehen vermocht. Er hatte die Tuben in die Tasche gesteckt und im gleichen Augenblick über sich Vikniksors Stimme gehört: „Was hast du da in der Tasche, Tschornych?“

Und Jankel war nichts anderes übriggeblieben, als die unglückseligen Tuben wieder herauszuholen.

Vikniksor hatte die Tuben genommen und Jankel einen angeekelten Blick zugeworfen.

„Hast du schon vergessen, du Strolch, daß dir gerade erst verziehen worden ist, daß dir die Versetzung in die Besserungsanstalt drohte?“

„Die Farben sind ganz von allein herausgefallen, Viktor Nikolajewitschl“ hatte Jankel gestammelt.

„Und direkt in deine Tasche?“

Vikniksor hatte Jankel befohlen, sofort in die Klasse zu gehen, und diesmal hatte der Junge gar nicht erst versucht, um Verzeihung zu bitten. Ohne jemandem etwas von seinem Pech zu sagen, war er in die Klasse gegangen und hatte den Abend in der fürchterlichsten Niedergeschlagenheit verbracht. Nach einer qualvoll schlaflosen Nacht war dann der nächste Tag angebrochen, und allmählich hatte sich Jankel mit der Hoffnung beruhigt, Vikniksor würde seinen Streich in dem allgemeinen Durcheinander vergessen haben. Wie sich jedoch herausstellte, hatte Vikniksor nichts vergessen.

Und jetzt saß Jankel im Mittelpunkt aller Blicke da und dachte, daß er eigentlich leichten Kaufes davongekommen sei. Aber Vikniksor beschränkte sich nicht auf eine Eintragung in die Chronik. Das dicke Buch in der Hand, ging er im Eßraum auf und ab und erläuterte den Jungen Sinn und Bedeutung der Eintragung, um ihnen Angst und Achtung vor der Chronik einzuflößen. Nun steht Tschornych auf der ersten Seite, Kinder. Tschornych wollte Farben stehlen. Die Eintragung ist nicht mehr aus der Chronik fortzuwischen. Wer weiß, vielleicht wird aus Tschornych eines Tages noch ein berühmter Maler. Er sitzt im Kreise seiner Freunde und Verehrer, einer findet die Chronik, schlägt sie auf und liest: „Tschornych wurde bei dem Versuch ertappt, staatseigene Farben zu stehlen. 'Dann wenden sich alle von ihm ab und sagen: 'Du bist ein Dieb! Unter ehrlichen Menschen hast du nichts zu suchen!''“