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Schlaf, mein Liebling, in der Wiege brauchst du nicht zu frieren. Deine Mutter schreibt Maschine und geht nachts spazieren. Denn ihr Bruder fiel in Kronstadt noch in jungen Jahren…

Da kommt Vikniksor in die Klasse. Alle springen auf. Die Kartenspieler raffen verstohlen die auf dem Fußboden verstreuten Karten zusammen. Jankel kann seine Zigarette nicht mehr rechtzeitig verstecken und tritt sie mit der Stiefelspitze aus. Mit Vikniksor ist ein kraftstrotzender Pausback in die Klasse gekommen. Er trägt eine enge Uniform mit Goldknöpfen. Die Uniform ist dem Pausback zu klein; er selbst ist groß, und deshalb reichen ihm die Ärmel knapp bis zu den Ellenbogen. Über dem Bauch fehlt ein Goldknopf; dafür prangt an dieser Stelle ein Riß.

„Ein neuer Schüler“, erklärt Vikniksor. „Mstislaw Offenbach… Ein kräftiger, gescheiter Knabe. Ihr werdet ihm nichts zuleide tun, nicht wahr?“

„Jaa“, dröhnt Offenbach. Es ist kaum zu glauben, daß diese Baßstimme ihm gehört und nicht einem dreißigjährigen Manne. „Knabe!“ flüstert jemand spöttisch. „Hat sich was mit Knabe. Der ist sicher stärker als Zigeuner.“

Als Vikniksor den Raum verlassen hat, drängen sich die Jungen um den Neuen.

„Weshalb wurdest du hergebracht?“ erkundigt sich Japs. „Ich habe zu Hause was angestellt“, brummt Offenbach. „Die Miliz hat mich hergeschleppt, von allein wäre ich nicht gegangen.“ Er lächelt. Sein kindliches Lächeln paßt gar nicht zu dem groben, männlichen Gesicht… Den Jungen wird klar, daß Offenbach zwar stark, aber nicht bösartig ist.

„Wie alt bist du?“ fragt Zigeuner. Er wittert in dem Neuen einen Konkurrenten, was die Kraft betrifft.

„Vierzehn“, erwidert Offenbach. „Heute habe ich gerade Geburtstag. Meine Einweisung ins Heim ist ein Geburtstagsgeschenk meiner Mutter.“

Er betrachtet die grauen Klassenwände und grinst betrübt. „Mach dir nichts draus“, meint Japs. „Das ist gar kein so schlechtes Geschenk. Du wirst dich hier schon einleben.“

„Bist du wirklich erst vierzehn?“ forscht Jankel nachdenklich. „Du siehst so stämmig aus — wie ein Kaufmann von der Wolga.“„Stimmt!“ bestätigt Spatz. „Wie ein Kaufmann.“„Wie ein Kaufmann!“ wiederholt Brotkanten.

„Kaufmann?“ Offenbach grinst. Er ahnt nicht, daß er damit ein für allemal seinen Spitznamen weg hat. „Was trägst du für eine Uniform?“ Jankel zeigt auf die Jacke.

„Das ist eine Kadettenuni-form“, gibt „Kaufmann“ Auskunft. „Vor der Revolution bin ich in eine Kadettenanstalt gegangen. In die Peterhof er und später in die Orlower.“

„Ach nee!“ ruft Jankel. „Du bist demnach von Adel?“

„Ja.“ Kaufmann nickt ohne jeden Stolz. „Ich bin von Adel. Mein Vater war Offizier, ein baltischer Baron. Mein voller Name lautet Wolf von Offenbach.“

„Ein Baron!“ Jankel wiehert vor Vergnügen. „Tolle Sache!“ „Ich habe aber kein besseres Leben gehabt als ihr“, sagt Kaufmann. „Niemals habe ich zu Hause gewohnt, auch als kleines Kind nicht.“

„Na schön“, meint Japs. „Uns ist es wurscht, ob du Baron bist oder nicht. Bei uns herrscht Gleichberechtigung.“

Alle setzen sich an den Ofen. Wie ein Indianerhäuptling hockt Kaufmann auf einem zerbrochenen Schemel in der Mitte. Er spürt die Blicke aller auf sich gerichtet, lächelt selbstzufrieden und kneift die ohnehin schon schmalen Augen zusammen. „Du bist also Kadett?“ fragt Jankel.

„Ja“, antwortet Kaufmann. Grinsend fügt er hinzu: „Ehemaliger.“ Schweigen.

Junge, der ist sicher stärker als Zigeuner.

„Dann sind wohl lauter Fürsten und Barone mit dir zur Schule gegangen, wie?“ piepst Mamachen.

„Tatsache!“ brummt Kaufmann in seinem Baß. „Nur Adlige. Andere nicht.“

„So was!“ sagt Spatz. „Dann hast du also Fürsten gesehen und ihnen vielleicht sogar die Hand gedrückt?“

„Nicht bloß Fürsten. Nikolai hab' ich auch gesehen.“

„Nikolai?“ schreit Brotkanten. „Den Zaren?“

„Das war nichts Besonderes. Er ist zu uns in die Anstalt gekommen, und später habe ich ihn häufig gesehen, als ich in der Schloßkirche Meßdiener war. Ach, das war ein Leben — das reinste Honiglecken!“

Kaufmann seufzt.

„Hostien haben wir gefuttert!“

„Hostien?“

„Ja, Hostien!“ bestätigt Kaufmann. „In der Schloßkirche schmeckten die Hostien großartig. Manchmal hab' ich mir zwanzig Stück eingesteckt und sie dann zusammen mit den Kameraden aufgefuttert. Mit Butter bestrichen. Prima!“ Träumerisch fährt er sich mit der Hand über die Stirn. Dann seufzt er wieder. „Man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Dann wurde es unangenehm.“

„Erzähl.“ bittet Japs. „Ja, erzähl mal!“ drängen auch die anderen.

„Meistens habe ich die Hostien in die Anstalt mitgenommen“, beginnt Kaufmann, „und sie dort aufgefressen. Aber einmal hatte ich zu großen Appetit darauf. Ich nahm mir Butter mit und wollte in der Sakristei frühstücken. Na schön. Am Altar wurde gerade die Messe gelesen, der Diakon stimmte das 'Herr, erlöse uns' an, ich holte mein Taschenmesser heraus, zerschnitt die Hostien — ungefähr fünf Stück —, schmierte Butter drauf, klappte sie zusammen und wollte sie in die Tasche stecken. Im selben Augenblick kam der verdammte Vater Benjamin herein. Natürlich schmiß ich die Hostien auf die Schale zurück und hob fromm die Augen gen Himmel. Er schickte mich in die Hofküche, um Wasser für das Abendmahl zu holen. Als ich zurückkam, waren die Hostien futsch — er hatte sie zum Altar gebracht. Ich kriegte eine Heidenangst und saß bibbernd in der Sakristei. Schließlich kehrte Vater Benjamin zurück, eine Hostie in der Hand. Seine Hand wabbelte wie Gelatine. 'Was ist das?' fragte er. 'He?' Selbstverständlich wurde ich zum Teufel gejagt, und in der Anstalt steckten sie mich für zwei Tage in den Karzer. Als Vater Benjamin nämlich dem Selbstherrscher aller Reußen eine Hostie reichen wollte, löste sich die Hälfte ab und fiel zu Boden. Es soll einen mächtigen Skandal gegeben haben, hörte ich später. Zum Piepen!“

Die Jungen brechen in schallendes Gelächter aus. Da klingelt es. „Schlafenszeit“, sagt Spatz. „So früh?“ staunt Kaufmann. „Ja“, antwortet Japs, „bei uns herrschen strenge Gesetze. Zwar nicht so streng wie in der Kadettenanstalt, aber immerhin…“ Den Jungen fällt ein, daß Kaufmann von der Beschließerin keine Bettwäsche bekommen hat. Sie gibt nur bis sechs Uhr welche aus. „Macht nichts“, meint Japs. „Wir veranstalten eine Sammlung, und jeder spendet was. Dann hat er sein Bett.“

Viele Betten stehen leer. Einer steuert ein Kissen bei, ein anderer die Decke, der dritte ein Laken. Aus dem Kissen wird eine Matratze gebaut, und schließlich hat Kaufmann ein ebenso bequemes Bett wie die übrigen.

Er legt sich hin, wickelt sich in die rauhe, graue Decke und brummt mit seiner Baßstimme: „Gute Nacht, Leute!“

Dann schläft er ein und schnarcht wie ein Wildeber, ohne die halblauten Gespräche zu hören, die bis nach Mitternacht dauern. Am nächsten Morgen geht der Diensthabende durch den Schlafraum und läutet mit einer silberhellen Glocke. Die Schüler springen auf, ziehen sich schnell an und laufen in den Waschraum. Nachdem alle schon längst auf den Beinen, sämtliche Betten gemacht, die Decken zusammengefaltet und auf die Kopfkissen gelegt sind, bemerkt der Diensthabende, daß der Neue aus der vierten Abteilung noch schläft. Der Diensthabende — es ist der kleine, näselnde Koslow aus der ersten Klasse — rennt zu Offenbachs Bett hin und klingelt Kaufmann direkt ins Ohr. Kaufmann erwacht, fährt hoch und starrt dem Diensthabenden direkt ins Gesicht. „Was willst du, Halunke?“