Ringsum war es totenstill, kein Mensch auf der Straße. Tiefe Nacht. Im Dauerlauf rasten sie die pfeilgerade Alt-Petershofer Allee hinunter, vorüber an einer hell beleuchteten Fabrik. Als sie nicht mehr rennen konnten, gingen sie keuchend zu einem schnellen Schritt über. Beide waren von Sorge um die Schkid gequält.
„Sieh mal!“ flüsterte Jankel dem Kameraden plötzlich zu, ohne den Schritt zu verlangsamen. „Da schleicht jemand.“ Sie starrten auf eine Hausruine, aus der ein grauer Schatten huschte, offenbar, um ihnen den Weg abzuschneiden. Biber erblaßte. „Gespenster! Sie wollen mir den Halbpelz wegnehmen.“
„Komm, wir rennen!“ unterbrach Jankel. Er hatte keinen Raub zu fürchten, denn es war unwahrscheinlich, daß ihm ein Bandit das letzte Hemd, noch dazu ein altes Unterhemd, wegnehmen würde. Mit zusammengebissenen Zähnen und ängstlichen Blicken beschleunigten die Schkider ihren Schritt. Sie wollten an dem unheildrohenden Schatten vorüberschlüpfen, aber das Manöver mißlang. Hinter dem Ziegelhaufen tauchte ein Mann in einem grauen Rock auf. Er hielt einen Revolver in der Hand. „Halt! Hände hoch!“
Die Jungen blieben stehen und hoben gehorsam die Hände. Ohne den Revolver sinken zu lassen, musterte der Soldat die Schkider mißtrauisch. „Wohin wollt ihr?“
Biber verlor seine Angst, als er erkannte, daß es kein Bandit war. „Zur Feuerwehr!“ antwortete er munter. „Woher?“
„Aus dem Internat. Bei uns brennt es.“
Der Graurock zögerte einen Augenblick. Dann steckte er den Revolver weg.
„Kommt mit, ich bringe euch hin“, brummte er sehr viel freundlicher als zuvor.
Unterwegs kamen sie ins Gespräch. Die Jungen erfuhren, daß der Mann mit dem Revolver ein Tschekist war. „Ich habe euch für Banditen gehalten, ihr Bengels“, er lachte. „Wir Sie auch“, gestand Jankel mit wiedergewonnener Keckheit. „Mich?“
„Ja. Wir glaubten, Sie seien ein Gespenst.“
„Na, von dieser Gilde ist in Petrograd niemand mehr übriggeblieben. Die haben wir alle weggefangen“, erklärte der Tschekist. Da merkte er, wie dürftig Jankel gekleidet war, zog seinen Mantel aus und sagte: „Los, leg ihn um, sonst erkältest du dich.“
Sie langten in der Wache an. Kaum waren die Jungen in den ersten Stock gegangen und hatten den Brand gemeldet, als sie schon wieder nach unten gerufen wurden.
Dort brannten bereits rote Fackeln. Die Kupferhelme der Feuerwehrleute blitzten, und zottige Pferde schnaubten.
Die Feuerwehrleute setzten die Jungen auf den Wagen, und das Kommando raste davon. Geklingel, Sirenengeheul, Hufgeklapper und Pferdegewieher zerrissen die nächtliche Stille.
Als sie vor der Schule anlangten, hatte sich dort schon eine ziemlich große Menge von Gaffern gesammelt. Fast gleichzeitig traf ein zweiter Feuerlöschzug ein. Jankel und Biber wollten über die Hintertreppe hinauflaufen, aber der Wirtschaftsleiter jagte sie trotz ihrer hitzigen Proteste zurück. Zur gleichen Zeit spielten sich im Schlafraum Tragödien ab. Eine lange Zeit verging, bevor es gelungen war, alle Schlafenden aus-den Betten zu holen. Als sie schließlich wach waren, hatte sich das Zimmer mit dicken Rauchwolken gefüllt. Es qualmte aus allen Ritzen.
Eine Panik brach aus. Ein kleiner Junge fing an zu weinen. Fensterscheiben klirrten.
Schreiend rannten die Jungen durcheinander. Die Tür sprang auf, und Elanljum stürzte in den Schlafraum. „Kinder! Nehmt euch ein Kiasen. Kommt her!“
Wie eine Hammelherde um den Hirten, drängten sich die Jungen um die Lehrerin, als könne sie Wunder tun. Selbst Kaufmann, der sich unentschlossen den Nacken gekratzt und friedlich seine Zigarette aufgeraucht hatte, rückte näher an sie heran.
„Haltet euch das Kissen vor den Mund!“ überschrie Elanljum die aufgestörte Schar. „Folgt mir! Faßt euch an den Händen, damit keiner abhanden kommt.“
Der Brand hatte inzwischen weiter um sich gegriffen, wie die Rauchwolken verrieten, die immer dichter und schwärzer wurden. Elanljum riß die Tür wieder auf und schritt mutig in die undurchdringlichen Schwaden hinein.
Die Jungen folgten ihr auf dem Fuße.
Sie hatten nicht weit zu gehen. Sie brauchten nur rechts abzubiegen, drei Schritte über den Treppenabsatz zu machen und die Tür zur Direktorwohnung zu öffnen. Dort war ein Ausgang zur Hintertreppe. Die ganze Schule drängte sich bereits auf dem Treppenabsatz, in der ungeduldigen Erwartung, daß die erlösende Tür bereits geöffnet wurde. Doch bei den vorderen gab es eine Stockung.
Sie konnten die Messingklinke nicht finden. Dutzende von Händen tasteten über Wände und Türrahmen, störten sich gegenseitig beim Suchen, fanden aber die Klinke nicht.
Sehen konnten sie nichts — rußschwarzer Rauch verklebte ihnen die Augen und ließ sie tränen.
„Schnell!“ stöhnten die Jungen gepreßt. „Wir ersticken!“ Einer bekam Rauch in die Kehle, mußte husten und stieß einen gellenden Schrei aus. Es wurde immer fürchterlicher.
Kaufmann hatte finster an der Wand gestanden. Er hielt die Untätigkeit nicht länger aus, stieß die Kameraden, die sich auf dem Treppenabsatz drängten, beiseite, fuhr langsam mit der Hand über die Wand, ertastete die Türfüllung und fühlte so lange weiter, bis er auf die Klinke stieß.
Sie suchten ihre Habseligkeiten.
Blendendhelles Licht strömte aus der geöffneten Tür, und die halberstickten Jungen taumelten in den Korridor. Elanljum zählte sie durch. Keiner fehlte. Erleichtert atmete sie auf, dann bekam sie einen neuen Schreck. „Kinder! Wo ist der Lehrer?“ Totenstille war die Antwort. „Wo ist der Lehrer?“ wiederholte sie alarmiert. „Er liegt noch immer im Schlafraum, der Dummkopf“, gab Kaufmann gutmütig lächelnd Auskunft. „Er stöhnt, steht aber nicht auf, zum Piepen!“
Elanljum schrie auf, griff sich an den Kopf und stürzte durch den verqualmten Korridor zum Schlafraum zurück. Fünf Minuten später donnerten Schläge an die Tür.
Als die Schkider eilig öffneten, bot sich ihnen ein merkwürdiges Bild. Elanljum zerrte Reibeisen an der Hand hinter sich her. Er kroch in Unterhose und Unterhemd hilflos über den Fußboden, keuchend, mit heraushängender Zunge, mit halbirrem Blick.
Den vereinten Anstrengungen der Jungen gelang es, beide in den Korridor zu ziehen. Dort sank Reibeisen ohnmächtig zu Boden. Keuchend lehnte sich Elanljum an die Wand. Doch kurz darauf hatte sie sich bereits wieder erholt, und ihre Stimme schallte über den Korridor: „Alle gehen die Treppe hinunter, aber nicht auf die Straße, sondern zu Meftachudyn in die Pförtnerwohnung!“
Die Jungen strömten in den Hof und rannten trotz des Verbotes auf die Straße. Niemand mochte zum Pförtner gehen. Zitternd vor Kälte, starrten sie auf die brennenden Fenster. Ihre Angst verflog, und allmählich machte ihnen die Sache Spaß. Jankel und Japs standen am Zaun und blickten ebenfalls zum Hause empor. Aber sie kämpften mit den Tränen.
Klirrend platzte eine Scheibe, eine Feuerzunge schoß aus der Öffnung und leckte über die reifbedeckte Hausmauer.
An der Ecke schnaufte eine Dampfpumpe. Die im Schnee liegenden Wasserschläuche schwollen an.
Feuerwehrleute mit Äxten rannten vorbei. Auf der Feuerleiter, die links aufgestellt wurde, kletterte bereits ein flinker Bursche mit blitzendem Helm empor. Kläglich klirrten die letzten Fensterscheiben in dem brennenden Stockwerk; fauchend zischten dicke Wasserstrahlen aus den Schläuchen.
„Unsere Klasse brennt! Halunken!“ schimpfte Zigeuner. Er war zu Jankel und Japs getreten.
Sie schienen ihn nicht zu hören. Zähneklappernd vor Kälte und Aufregung, stammelten sie immer wieder: „Der 'Spiegel'! Der 'Spiegel'!“
„Mein Papier! Meine Farben!“ ergänzte Jankel zuweilen verzweifelt. „Marsch in die Pförtnerwohnung!“ donnerte Vikniksor sie an. Nach einem letzten schmerzlichen Blick auf die brennende Klasse schlüpften die Jungen ins Tor.