In der Pförtnerwohnung drängten sich bereits viele halbbekleidete, vor Kälte zitternde Schkider.
Die Wohnung war klein, und deshalb saßen sie sogar auf den Fensterbrettern und dem Fußboden. Von der Straße drang der Lärm der Löscharbeiten herein, die Jungen zog es unwiderstehlich hinaus, aber Meflachudyn, dem es allerstrengstens verboten war, sie vor das Tor zu lassen, stand an der Tür.
Er war ein gutmütiger Tatare mit verstümmelten Händen. Er stammte aus Samara, war vor dem Hunger nach Petrograd geflohen und hatte in der Schkid eine Unterkunft gefunden. Die Jungen mochten ihn gern, aber heute haßten sie ihn.
„Laß mich doch hinaus, Meftachudyn, ich möchte zugucken!“ flehte Spatz. Doch der Pförtner schob ihn freundlich zurück. „Bleib sitzen, du Brandstifter“, sagte er gedehnt. „Was gibt es draußen zu sehen? Gar nichts! Setz dich hin!“
Zuweilen schoben Elanljum oder Vikniksor weitere Schüler, die sie auf der Straße erwischt hatten, hinein und verschwanden dann wieder, um sich erneut auf die Suche zu machen.
Eng zusammengedrückt, niedergeschlagen und verzweifelt saßen die Jungen da — eine endlose Zeit. Schon graute der Morgen. Jeder Schkider machte sich seine Gedanken über die Ursache des Brandes.
„In der vierten Abteilung haben sie den Eisenofen überheizt, dabei muß der Fußboden angebrannt sein.“
„Vielleicht ist die elektrische Schnur brüchig gewesen.“
„Oder jemand hat geraucht und den Stummel weggeworfen.“ Doch nur Jankel kannte den wirklichen Grund: Unablässig stand ihm die kleine rote Kohle — aufglühend und verlöschend — vor Augen.
Der Morgen kam.
Die Feuerwehrleute fuhren ab. Im Schnee blieben schmutzige Pfützen und Haufen von verkohlten Brettern zurück.
Traurig starrten sechs leere Fensterhöhlen. Ruß, Rauch und Brandgeruch stiegen den ersten Passanten in die Nase. Zwei Klassen und der Fußboden im Schlafraum waren ausgebrannt. Am Morgen gingen die Großen auf die Brandstätte und betrachteten kummervoll die verkohlten Balken, die geschwärzten Fensterrahmen und die verrußten Wände. Sie suchten ihre Habseligkeiten; sie hofften, noch irgend etwas aus dem Schutt zu wühlen. Auch Jankel und Japs waren dabei. Sie suchten nach dem „Spiegel“; doch wie sehr sie auch forschten, sie konnten keine Spur entdecken.
Als sie den Raum wieder verlassen wollten, bückte sich Jankel noch einmal über einen Haufen von verbranntem Zeug, steckte die Hand hinein und zog etwas Formloses, Nasses, Zerfledertes heraus. Es waren die wohlbekannten, mit Druckbuchstaben beschriebenen Blätter.
„Hurra! Er ist heil!“
Mit allergrößter Vorsicht, unter Beteiligung beinahe der ganzen Klasse förderten sie ihr Lieblingskind zutage. Aber wie sah es aus! Die Ränder waren angesengt, das Papier vergilbt. Das Wasser hatte die vollständige Vernichtung des „Spiegels“ verhindert. Dann war anscheinend Putz darauf gefallen und hatte ihn unter Trümmern am Leben erhalten.
Die Redakteure jubelten.
Anschließend hielt Vikniksor eine Versammlung ab und fragte die Schüler nach ihrer Meinung über die Brandursache. „Der Eisenofen ist schuld!“ war die allgemeine Ansicht. Daraufhin wurden die kleinen Eisenöfen sofort in einem feierlichen Akt aus der Schule verbannt.
Zwei Tage später nahmen die dritte und die vierte Klasse den Unterricht wieder auf. Sie waren in die inzwischen renovierten Klassen eingezogen. Sie sahen nicht schlechter aus als früher, aber den Jungen kamen die neuen Wände kalt und unfreundlich vor, und sie konnten sich nur langsam daran gewöhnen.
Jankel und Japs war die Liebe zu dem alten „Spiegel“ vergangen. Er war in ihren Augen jetzt nicht mehr als ein abscheulicher Krüppel. Lange Zeit konnten sie sich nicht entschließen, die sechsundzwanzigste Nummer der Zeitung herauszugeben. Aber dann setzten sie sich doch zusammen und beschlossen: „Mit dem alten 'Spiegel' wird jetzt Schluß gemacht!“
Zwei Wochen später erschien die erste Nummer der elegant ausgestatteten bunten Zeitschrift „Der Spiegel“, die sich von ihrem zwar ehrwürdigen, aber farblosen Vorgänger wesentlich unterschied. Doch es dauerte lange, bis sich die Republik Schkid von ihren Brandwunden erholt hatte — genauso, wie ein kleines Land nach einem großen Kriege erst langsam wieder gesundet.
LJONKA PANTELEJEW
Ein Griesgram „Eule“ * Plätzchen für Vikniksor * Nonne in Hosen * Einer gegen alle * „Der Heilige Geist“ Der Neue kommt hinter Gitter * Ljonkas Kindheit * Versöhnung Lorbeeren vertreiben den Schlaf.
Kurz nach dem Brand bekam die Republik Schkid einen neuen Bürger. An einem Wintermorgen erschien dieser griesgrämige junge Mann am Schkider Horizont. Im Gegensatz zu vielen anderen wurde er nicht hergebracht, sondern kam allein. Er klopfte ans Tor, und der Pförtner Meftachudyn ließ ihn ein, nachdem er festgestellt hatte, daß der untersetzte Junge mit den hervorstehenden Backenknochen und den dicken Augenbrauen eine Einweisung der Kommission für Minderjährige in Händen hielt.
Auf dem Hofe sägten die Schkider gerade unter Vikniksors Leitung Holz. Der Junge fragte nach Viktor Nikolajewitsch, ging zu ihm hin und zeigte verlegen das Schreiben vor.
„Aha, Pantelejew?“ Vikniksor lächelte spöttisch, während er das Schreiben überflog. „Ich habe schon von dir gehört. Man sagte mir, daß du Verse schmiedest? Macht euch bekannt, Jungens, das ist Alexej Pantelejew, euer neuer Kamerad. Übrigens ein Poet.“ Diese Empfehlung beeindruckte die Schkider nicht besonders. Fast sämtliche Bürger der Republik schrieben Gedichte, beginnend bei Vikniksor, den bekanntlich einst Alexander Block beneidet und nachgeahmt hatte. Mit Gedichten konnte man die Schkider nicht so leicht verblüffen. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn der Neue Degen verschluckt oder auf dem Kontrabaß gespielt, wenn er wenigstens eine irgendwie auffallende Vergangenheit gehabt hätte. Ein Degenschlucker war er jedoch keinesfalls, und was seine Vergangenheit betraf, so war es vollständig unmöglich, etwas aus ihm herauszubekommen, wie die Schkider sehr bald feststellten.
Es war ein ungewöhnlich schüchterner und wortkarger Bursche. Auf Fragen antwortete er nur „ja“ oder „nein“, oder er schüttelte bloß brummend den Kopf.
„Weswegen bist du hergekommen?“ erkundigte sich Kaufmann, als der Neue seine Privatsachen gegen die Anstaltskleidung eingetauscht hatte und nun mit finster gerunzelter Stirn über den Korridor schlenderte.
An Stelle einer Antwort sah Pantelejew den neuen Kameraden nur ärgerlich an und errötete wie ein kleines Mädchen. „Warum bist du in die Schkid gekommen?“ wiederholte Kaufmann. „Ich bin eben hier — wird schon seinen Grund haben“, brummte der Neue kaum hörbar.
Es war schwierig, ihn zum Sprechen zu bringen. Niemand versuchte es mehr. Farbloser Durchschnitt! stellten die Schkider fest. Sogar ein bißchen stur. Sie wunderten sich etwas, als der Neue nach der üblichen Prüfung sogleich in die vierte Abteilung eingeschult wurde. Doch beim Unterricht in der Klasse tat er sich ebenfalls nicht hervor. Er antwortete recht und schlecht; wenn der Lehrer ihn an die Tafel rief, errötete er verlegen, sagte lange Zeit gar nichts und gestand dann, ohne den Lehrer anzusehen: „Ich weiß nicht mehr… hab's vergessen.“ Nur in den Unterrichtsstunden für Russisch wurde er etwas lebhafter. In der Literatur kannte er sich aus.
In der Schkid war es üblich, daß die Neuen — unabhängig von ihrem Verhalten — in den ersten beiden Wochen keinen Urlaub bekamen. Aber Besuch von Verwandten durften sie empfangen. Im Sommer saßen die Jungen mit ihren Angehörigen auf dem Hofe, sonst im Weißen Saal. Am ersten Sonntag besuchte niemand den Neuen. Fast den ganzen Tag stand er geduldig auf dem Treppenabsatz an dem großen Fenster, das auf den Hof ging. Man konnte ihm ansehen, wie sehr er auf jemanden wartete. Aber niemand kam. Am nächsten Sonntag ging er nicht mehr ins Treppenhaus. Bis zum Abend saß er in der Klasse und las ein Buch, das er sich aus der Bibliothek entliehen hatte — Leonid Andrejews Erzählungen. Vor dem Abendessen, als die Urlauber bereits zurückkehrten, steckte der Diensthabende den Kopf in die Klasse: „Pantelejew, Besuch!“ Errötend sprang Pantelejew auf, ließ das Buch fallen und rannte mit unverhohlener Erregung aus dem Raum.