Zigeuner schwieg aus taktischen Gründen eine Weile — er wollte Vikniksor Gelegenheit geben, seinen Sieg auszukosten. Dann wechselte er den Ton und fragte nachlässig: „Viktor Nikolajewitsch, was ist eigentlich mit der Zeitung? Geben Sie nun eine heraus oder nicht?“
„Aber selbstverständlich! Sie ist schon fast fertig“, antwortete Vikniksor lebhaft. „Das Material reicht nur nicht. Die Jungen bringen mir nichts. Ich muß alles allein schreiben.“ „Ja, das ist schlecht“, meinte Zigeuner mitfühlend. Vikniksor hatte Feuer gefangen.
„Weißt du, ich habe mir schon einen Titel ausgedacht und auch versucht, ihn zu zeichnen. Doch es ist nichts geworden, ich kann nicht malen. Dafür habe ich die ganze Nummer jedoch bereits abgeschrieben, nur eine Ecke ist noch frei. Ich wollte ein Gedicht verfassen, aber es gelingt mir nicht. Als Gymnasiast konnte ich gar nicht schlecht dichten.
Ich weiß noch, daß Block mich manchmal beneidete. Kennst du Block, den berühmten Lyriker?“
„Freilich, Viktor Nikolajewitsch. Er hat, Die Zwölf geschrieben. Das habe ich gelesen.“
„Siehst du. Im Gymnasium drückte ich mit ihm die gleiche Schulbank.
Einmal bedichteten wir die Damen unseres Herzens. Und stell dir vor — meine Verse wurden so gut, daß Block mich beneidete.“
„Tatsächlich?“ Zigeuner staunte.
„Ja. Aber jetzt kann ich nicht mehr dichten — ich habe es verlernt.“
„Darüber wollte ich gerade mit Ihnen reden, Viktor Nikolajewitsch“, setzte Zigeuner vorsichtig an.
Der Schulleiter blickte verwundert auf. „Dann sprich doch.“ Der Junge machte ein verlegenes Gesicht.
„Ja, wissen Sie, ich habe ebenfalls versucht, ein Gedicht zu machen. Ich hab' es mitgebracht und möchte es Ihnen zeigen.“
„Ein Gedicht? Du bist ein Prachtkerl! Zeig her!“
„Es ist mein erstes Gedicht, Viktor Nikolajewitsch. Ich habe es für die Wandzeitung geschrieben.“
„Das ist ja großartig.“
Aus der Stimme des Direktors klang so viel freundliche Ermunterung, daß Zigeuner sein Gedicht in aller Ruhe hervorholte, es auf den Tisch legte und zurücktrat.
Vikniksor betrachtete das Blatt ein Weilchen, nahm es dann in die Hand und las vor:
Nachdem er den ersten Vierzeiler gelesen hatte, zögerte er nachdenklich. „Hm, gar nicht schlecht“, meinte er dann. Freudestrahlend stürmte Zigeuner aus dem Zimmer. Gelassen kam er in den Schlafraum.
Die Jungen saßen wie immer am Ofen. Niemand sah sich bei seinem Eintritt um. Das erbitterte ihn mehr als alles andere. „Wartet nur, ihr Teufel, ihr werdet mich noch kennenlernen!“ brummte er und ging zu Bett.
Nach einigen Tagen lernten die Schkider ihren Zigeuner tatsächlich kennen.
„Hast du gesehen?“
„Was?“
„Idiotische Frage! Geh mal in die Kanzlei. Sperr die Augen auf. Die Schulzeitung ist erschienen. 'Der Schüler' heißt sie.“ „Na und?“
„Schau sie dir an, bevor du 'na und' fragst. Unser Zigeuner…“ „Was ist mit ihm?“
„Geh hin — dann siehst du es.“
Sie kamen scharenweise, um die beiden kleinen Blätter zu betrachten. Ein Viertel der gesamten Zeitung nahm der mit Bleistift gezeichnete Titelkopf ein.
Sie lasen die in blasser Schrift getippten Artikel über Erziehungsmethoden in der Schule (sie trugen keine Unterschrift) und überflogen dann das zweite Blatt.
„Der Zigeuner! Prima Junge! Der hat den Bogen raus!“ johlten sie verblüfft.
„Ein richtiger Dichter!“
Zigeuner selbst glaubte zuerst, seinen Augen nicht trauen zu können. Doch, wahrhaftig, neben einem langen Artikel Vikniksors erblickte er sein Gedicht, und darunter stand sein Name: Kolka Gromonoszew! Nun konnte er es glauben, und er triumphierte. Das Gedicht war allerdings ein wenig verbessert. Der erste Vierzeiler lautete jetzt:
Die Zeitung machte tiefen Eindruck. Sie wurde immer wieder gelesen. Der Titelkopf erregte Befremden. Er war in der Tat ziemlich absonderlich. Auf dem weißen Grund standen halbkreisförmig die Worte: „Der Schüler“. Darunter prangte ein rätselhaftes Bild — eine Sonnenblume, deren orangefarbene Blätter einen schwarz ausgemalten Kreis umgaben. In dem Kreis waren die weißen Buchstaben „D. Seh.“ zu einem Monogramm verschlungen.
Was das bedeutete, konnte niemand begreifen. Schließlich fragte der quecksilbrige Sorokin (er trug den Spitznamen „Soroka“, auf deutsch „Elster“) eines Tages beim Mittagessen den Schulleiter in Gegenwart aller: „Viktor Nikolajewitsch, was soll die Sonnenblume darstellen?“
„Die Sonnenblume? Ja, Kinder… ich vergaß, euch das zu sagen. Sie ist unser Wappen. Von nun an wollen wir es überall einführen. Seine Bedeutung will ich euch erklären. Jeder Staat — eine Republik oder eine Erbmonarchie — besitzt ein Staatswappen, Was ist das? Das ist ein Symbol, welches sozusagen den Charakter des betreffenden Landes, sein historisches und politisches Gesicht, seine Ziele und Absichten ausdrückt. Auch unsere Schule ist eine in sich geschlossene kleine Republik. Deshalb meine ich, daß wir ebenfalls ein eigenes Wappen haben müssen. Warum wählte ich die Sonnenblume? Weil sie unsere Ziele und Aufgaben genau charakterisiert. Unsere Schule besteht aus euch, den Zöglingen, wie die Sonnenblume aus hunderten von Kernen besteht. Ihr strebt zum Licht, denn ihr lernt, und Wissen ist Licht. Die Sonnenblume strebt ebenfalls zum Licht, zur Sonne — wie ihr.“ Einer kicherte höhnisch. Vikniksor runzelte die Stirn, musterte die Jungen, und als er den Schuldigen gefunden hatte, wies er ihm schweigend die Tür.
Der Sünder mußte daraufhin den Eßraum verlassen und durfte erst essen, wenn die anderen fertig waren.
Unter den teilnahmsvollen Blicken der Schülerschar ging der Bestrafte hinaus.
„Wir sind die Sonnenblumenkerne, und Vikniksor knackt uns!“ zischte jemand giftig.
Dem Schulleiter war die Laune verdorben. Er hatte offenbar keine Lust mehr, seine Erklärungen fortzusetzen, denn er schloß kurz: „Die Sonnenblume ist jetzt unser Wappen. Diensthabender! Läute zum Unterrichtsbeginn.“
Die Republik Schkid hatte also an einem einzigen Tage zwei wertvolle neue Errungenschaften auf zuweisen: das Wappen und den Nationaldichter Kolka Gromonoszew.
Die Sympathie aller Jungen konzentrierte sich nun auf ihn, und die erste Ratte, die Spatzens sinkendes Schiff verließ, war Goga, der den Balalaikaspieler eindeutig zum Teufel schickte und zum Dichter überlief.
Spatz kochte vor Wut, aber er fühlte, daß er diesem Gegner nicht gewachsen war.
Dennoch probierte er zähe alle Mitteclass="underline" Er schrieb Gedichte, die er hinterher nicht ohne Abscheu lesen konnte; er versuchte es mit dem Zeichnen — aber seine Bemühungen ließen die Schkider kalt. So mußte er schließlich doch die Waffen strecken.
Zigeuner triumphierte. Sein Dichterruhm verließ ihn nicht, obgleich die Zeitung nach der ersten Nummer ihr Erscheinen einstellte und er selbst die lyrischen Versuche einstweilen aufgab.
EIN JANKEL IST DA
Das Paradies auf dem Friedhof * Nat Pinkerton In Aktion * Grischka ist reingeschlittert * Das Geld der Muflergottes * Das Sowjefpferdchen * Grischka als Hosenzugabe * Jankel ist da.
Schon als kleine Rotznase liebte Grischka die Freiheit und Selbständigkeit. Er war immer schrecklich wütend, wenn die Mutter ihn bestrafte, weil er im Frühling in den Regenpfützen herumgewatet war und dann naß und schmutzig nach Hause kam.