Vikniksor hatte die Wahrheit gesprochen: Der Neue übernachtete nicht zum erstenmal in einem vergitterten Raum. Dieser äußerlich stille, schüchterne, wortkarge Bursche war, wie man so sagt, durch Feuer und Wasser gegangen.
Ljonka hatte in einer Familie, die man nicht als arm bezeichnen kann, das Licht der Welt erblickt. In dem Geburtsschein, den der neugebak-kene Schkider zusammen mit der Einweisung Vikniksor vorgelegt hatte, stand, daß sein Vater „Reserveleutnant mit persönlich verliehenem Adel“ und seine Mutler „die Tochter eines Kaufmanns der ersten Innung“ seien. Übrigens war der Vater schon seit vielen Jahren tot, und seine Gesichtszüge wären wahrscheinlich längst aus Ljonkas Gedächtnis entschwunden, hätte eine alte Zeitschrift nicht sein Foto enthalten. Diese vergilbte Zeitschrift wurde mit einigen anderen Dingen, die von der alten Zeit übriggeblieben waren, in der Familie sorgsam aufbewahrt. Das Foto zeigte einen jungen Kosakenoffizier; er trug eine schneeweiße Uniformjacke mit Schulterstücken und sah stolz und fröhlich in die Welt. Darunter stand eine Notiz, deren Überschrift lautete: „Heldentat eines Leutnants aus dem Fünften Sibirischen Kosakenregiment.“ In der Notiz wurde berichtet, daß der Leutnant I. A. Pantelejew in einen japanischen Hinterhalt geriet, als er mit einer Geheimmeldung zum russischen Kommandostab unterwegs war. Bei dem folgenden Schußwechsel wurde der Leutnant durch einen Streifschuß verwundet. Er wehrte jedoch den Feind ab und brachte die Meldung trotz seiner Verwundung zum Kommandostab. Für diese Heldentat wurde Ljonkas Vater geadelt und bekam einen Orden. Ljonka konnte sich nur noch undeutlich an den Vater erinnern, aber aus den Erzählungen seiner Angehörigen wußte er, daß es ein ehrenhafter, aufrechter, unbestechlicher Mann gewesen war. Nach dem Russisch-Japanischen Kriege hatte ihm eine glänzende Karriere — Orden, Rangerhöhungen, Reichtum — bevorgestanden. Doch der Vater hatte allem entsagt und war ins Zivilleben zurückgekehrt. Er mußte den gleichen Beruf ergreifen, den sein Vater und sein Großvater ausgeübt hatten: er handelte mit Bau- und Brennholz. Diese Beschäftigung paßte ihm gar nicht, aber er sah keinen Ausweg. Deshalb begann er zu trinken. Und er trank so lange und soviel, bis er ein Trunkenbold wurde und seine Familie verließ. Später starb er in der Fremde, fern von Frau und Kindern.
Ljonkas Kinderzeit verlief glatt und ungestört. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr kannte er weder Not noch Hunger oder Kälte. Kinderfrauen und Gouvernanten hüteten und erzogen ihn, die Köchin bereitete ihm das Essen. Sogar seine Schuhe brauchte er nicht selbst zu putzen; das machte das Stubenmädchen. Nach dem Fortgang des Vaters wurde das Leben zwar schwieriger — die Mutter mußte den Kindern reicher Leute Musikunterricht geben, um Geld zu verdienen —, doch diese Veränderungen wirkten sich kaum auf Ljonkas Leben aus. Er kam zur ordnungsgemäßen Zeit in die Vorbereitungsschule und dann in die Realschule… Schon früh faßte er eine Vorliebe für die Lektüre, für Pap'er, Federn, Bleistifte und die übrigen Schreibutensilien. Mit sechs Jähren versuchte er bereits, Gedichte und Geschichten zu schreiben. Wegen dieser vorzeitigen Gelehrtheit wurde er wohl von Bruder und Schwester „Bücherschrank“ genannt. Aber das alles fand sehr schnell ein Ende, verschwand spurlos aus seinem Leben — die Köchinnen und die Stubenmädchen, die Religionsstunden in der Realschule, die Weihnachtsbäume und die duftenden Frühlingshyazinthen auf dem Ostertisch.
Ljonkas Kindheit endete ebenso früh wie die von vielen seiner Altersgenossen. Die Revolution brach aus, und alles ging aus den Fugen. In Petrograd begann eine Hungersnot, vor der Ljonkas Familie ins Jaroslawler Gouvernement floh, in ein Dorf, wo Ljonkas ehemalige Kinderfrau wohnte. Von dort zogen sie noch weiter — in ein Städtchen an der Kama. Hier arbeitete die Mutter als Leiterin einer Musikschule, hier besuchte Ljonka wieder die Schule.
Im Winter 1919 fuhr die Mutter in dienstlichem Auftrage nach Petrograd. Ihre Reise sollte einen Monat dauern. Aber sie kam weder nach einem Monat noch später zurück. Ljonka wohnte bei seiner Tante. Sie hatten nichts zu essen, und die Tante setzte ihn vor die Tür. Nach längerem Suchen fand Ljonka Unterkunft in einer Landwirtschaftsschule, wo bereits sein jüngerer Bruder lebte. In dieser Schule, die von der Obrigkeit vergessen zu sein schien, bekamen die verlausten Kinder nichts als Rübenkraut zu essen. Das Diebeshandwerk blühte. Die Jungen bestahlen ihre eigenen Kameraden, ihre Vorgesetzten und die Bauern der umliegenden Dörfer. Ljonka hatte sich bisher für einen ehrenhaften Menschen gehalten. Schon der Gedanke, sich fremder Leute Gut anzueignen, war ihm zuwider, und lange Zeit nahm er an den Raubzügen seiner Kameraden nicht teil. Doch eines Tages zwangen sie ihn, einen Brotlaib zu stehlen. Das war der erste Schritt auf jenem dornigen Pfad, den er von nun an weitergehen sollte. Sehr bald floh er aus dem Internat. Er kam in ein anderes, lief aber schon nach einem Monat unter Mitnahme von Sachen, die ihm nicht gehörten, auch von dort weg. Als er die Sachen auf dem Markt verkaufte, wurde er verhaftet. Ein neues Kinderheim, abermals Flucht. Diesmal mußte er die Stadt verlassen, weil er bereits polizeilich gesucht wurde. Seine Irrfahrten durch die Heimat begannen — eine Heimat, über die noch immer der Bürgerkrieg hinwegbrauste. In den Jahren dieses obdachlosen Daseins traf er auf Weiße, Rote und „Grüne“. Er begegnete guten und schlechten Menschen. Die guten verschafften ihm nützliche Arbeit, die schlechten brachten ihn von diesem richtigen Wege wieder ab.
Einen Winter verlebte er in der Stadt Menselinsk, wo ihn die dortigen Komsomolzen beherbergten. Sie gaben ihm Kleider und Schuhe und schickten ihn in eine Gewerbeschule. Es waren düstere Wintermonate, aber in Ljonkas Gedächtnis leuchten sie in strahlendem Licht. Zusammen mit den Komsomolzen nahm Ljonka an der Niederschlagung eines Kulakenaufstandes teil. Er erhielt ein Gewehr und versah wie andere Halbwüchsige den Wachdienst in der Stadt. Sein Leben schien wieder ins rechte Gleis zu kommen. Er hoffte, die dunkle Vergangenheit endgültig hinter sich zu haben. In seiner Freude ahnte er nicht, daß ihm neue Stürme, neue Leiden bevorstanden.
Obgleich es ihm in Menselinsk gut ging, gab er den Gedanken an eine Rückkehr nach Petrograd niemals auf. Er hoffte weiter, daß seine Mutter noch am Leben sei. Mehrmals schrieb er ihr, er fragte auch beim Petrograder Einwohnermeldeamt an, erhielt aber keine Antwort. Daraufhin beschloß er, sich auf eigene Faust nach Petrograd durchzuschlagen.
Diese Reise dauerte sehr lange. Statt in Petrograd landete Ljonka in der Ukraine, wo er sich mit Dieben zusammentat und wieder auf den Weg des Verbrechens kam. Beinahe ein Jahr lang zog er — gleich Tausenden von Jungen, die ebenso obdachlos waren wie er — durch die vom Krieg verwüsteten Gegenden. Dabei saß er wiederholt in den Wachlokalen der Miliz, bei der Eisenbahntscheka, in den Gefängnissen der Kriminalpolizei. Jedesmal wurde er in ein Kinderheim oder eine Erziehungskolonie gesteckt, von wo er nach einem Tage, einer Woche oder höchstens einem Monat wieder Reißaus nahm. Von einer Rückkehr nach Petrograd träumte er nicht mehr. Er hielt sich für endgültig gestrandet, er vermochte sich nicht mehr vorzustellen, daß er noch einmal vor Mutter und Schwester hintreten und ihnen in die Augen sehen könne.
Die ebenso obdachlos waren.
Mehrmals riß er sich zusammen und versuchte, das Stehlen aufzugeben und zu arbeiten. Er ging auf den Bahnhof und bot den Fahrgästen seine Hilfe beim Gepäcktragen an. Doch er sah so verkommen aus, daß sie erschraken, ihn zurückstießen und ihre Körbe und Koffer lieber selbst zur Straßenbahn oder zu einem Gepäckkarren schleppten. Er probierte es auch mit dem Handel. Als die Neue ökonomische Politik begann und der Privathandel wieder erlaubt wurde, kaufte er einem chinesischen Bekannten billige selbstgedrehte Zigaretten ab, ging damit auf die Hauptstraße und schrie: „Zigaretten zu verkaufen! Wer wünscht Zigaretten?“