Выбрать главу

Doch dabei rauchte er mehr Zigaretten, als er verkaufte. Abends rechnete er seinen Verlust aus und gab den Handel endgültig auf. Neue Irrfahrten, neue Obdachlosigkeit, Übernachtungen hinter Zäunen, Milizpfiffe, harte Gefängnispritschen, Karbolgeruch, Anstaltshemden mit fetten, schwarzen Stempeln am Saum, lärmende Märkte, auf denen das Hemd verkauft oder vertauscht wurde, wieder eine Nacht unter freiem Himmel, dann die Pfiffe der Miliz, eine neue Gefängniszelle mit Gefängnisgestank…

Schließlich hatte er das satt. Ihm wurde klar, es könne nicht mehr so weitergehen. Eines Abends saß er Kirschen essend an der Eisenbahn. Und plötzlich beschloß er zu seiner eigenen Überraschung: Ich fahre nach Petrograd.

Er brauchte sich von niemandem zu verabschieden. Den ersten Zug, der nach Norden fuhr, wartete er ab, sprang im Fahren auf das Trittbrett, kletterte von dort auf den Puffer und über die Eisentreppe aufs Wagendach. Er stieg von einem Zug in den nächsten um und fuhr — auf Puffern, Achsen, in Kohlenkisten und Ölbehältern — in die Heimat.

Nach dreieinhalbjähriger Abwesenheit stand er dann wieder in seiner Vaterstadt. Er ging durch die Petrograder Straßen, und die Tränen, die ihm gegen seinen Willen über das Gesicht flössen, zogen weiße Furchen über seine kohle- und ölverschmierten Wangen. In die Wohnung, in der sie vor der Revolution gelebt hatten, waren fremde Leute eingezogen. Als Ljonka klingelte und fragte, ob die neuen Mieter wüßten, daß seine Mutter noch am Leben sei, wurde ihm nicht einmal die Tür geöffnet. Eine alte Frau spähte ärgerlich über die Sicherheitskette hinweg, klappte ihm die Tür vor der Nase zu und befahl ihm, sich fortzuscheren, sonst würde sie ihn augenblicks dorthin schicken, wo solche Strolche wie er hingehörten. Fluchend trottete Ljonka die Treppe hinunter.

Den ganzen Tag irrte er hungrig durch die Stadt. Als er abends zufällig in eine Straße kam, fiel ihm ein, daß hier vor der Revolution seine Tante gewohnt hatte. Nur mit Mühe machte er das Haus und die Wohnung ausfindig. Es stellte sich heraus, daß die Tante dort immer noch wohnte. Aber sie wollte Ljonka nicht über die Schwelle lassen — sie konnte es nicht fassen, daß dieser kleine Lump ihr Neffe sei. Als sie ihn schließlich doch erkannte, war Ljonkas erste Frage: „Lebt Mama noch?“ Und da erfuhr er, daß seine Mutter am Leben war, daß sie sogar mit seinen jüngeren Geschwistern bei ihrer Schwester in einem kleinen Durchgangszimmer wohnte.

Auch sie hatte viel durchmachen müssen. Als sie im Frühjahr 1919 von ihrer Dienstreise zurückkehrte, wurde ihr Zug von Banditen überfallen. Die Banditen beraubten den Zug, erschossen das gesamte Bahnpersonal, töteten, verwundeten oder verschleppten viele Fahrgäste. Der Mutter gelang es, sich zu retten. Als sie jedoch schließlich in dem Städtchen an der Kama eintraf, war Ljonka schon fort. Jahrelang hielten ihn seine Angehörigen für tot. Und nun war er zurückgekehrt. Damit schienen Ljonkas schlimme Abenteuer endgültig abgeschlossen zu sein. Er wollte unter seine dunkle Vergangenheit einen energischen Schlußstrich ziehen und suchte Arbeit. Aber es war damals nicht einfach, welche zu finden. Überall herrschte Arbeitslosigkeit. Und Ljonka besaß keinerlei Spezialausbildung. Er ließ aber den Mut nicht sinken, obgleich er, kein leichtes Leben hatte: Daheim konnten sie sich nur selten satt essen. Die Mutter schlug sich mit gelegentlichen Unterrichtsstunden durch, Ljonkas jüngerer Bruder arbeitete für einen Groschenverdienst bei einem privaten Bäcker als Gehilfe. Ljonka gelang es, für kurze Zeit Arbeit zu finden: Ein paar Wochen lang spielte er „Sowjetpferdchen“ in einer Limonadenfabrik, das heißt, er fuhr mit einem Handwagen Bier- und Limonadenkisten aus.

Es war eine langweilige, einförmige, unsäglich schwere Arbeit, aber sie machte Ljonka glücklich. Ungeduldig wartete er auf den ersten Lohn, damit er der Mutter das erste ehrlich verdiente Geld bringen könnte. Aber zu einer Lohnzahlung kam es nicht. Eines Tages machte Ljonka mit seinem Begleiter die gewohnte Fahrt durch die Stadt. In der Gorstkiner Straße schleppte der Begleiter — ein alter Mann — eine Bierkiste in den ersten Stock einer Kneipe, während Ljonka mit dem Karren vor der Tür wartete. Er träumte vor sich hin, die ermüdeten Hände vermochten den schweren Karren nicht mehr im Gleichgewicht zu halten und ließen die Deichsel los. Dadurch rutschten die aufgetürmten Kisten vom Karren und krachten scheppernd auf das Straßenpflaster. Fast alle Flaschen waren entzwei. Ljonka wußte, daß ihm der deutsche Besitzer der Fabrik dafür das Fell über die Ohren ziehen würde. In seiner Angst ließ er den Karren stehen und nahm Reißaus. Am gleichen Tage begegnete er auf dem Markt einem Jungen namens Wolkow, den er von früher kannte. Sie hatten dieselbe Realschule besucht und sich ein wenig angefreundet. Damals war Wolkow ein hübscher, wohlerzogener Junge aus einer Äristokratenfamilie gewesen. Jetzt hatte er sich in einen waschechten geriebenen Taschendieb verwandelt. Er schlug Ljonka vor, mit ihm auf Halbpart zu „arbeiten“. Nach einiger Überlegung schickte Ljonka ihn zum Teufel. Er wußte nicht, daß es ihm beschieden war, den Burschen schon nach kurzer Zeit wieder zu treffen. In die Fabrik kehrte Ljonka nicht mehr zurück. Er gab seine Sehnsucht nach Arbeit auf und besuchte von nun an die Schule. Doch auch hier hatte er Pech — er mußte die Schule bald wieder verlassen. Es war ein ehemaliges privates Gymnasium, in dem sich die Bräuche der Zarenzeit erhalten hatten. Die Schüler bestanden größtenteils aus Bürgersöhnen und — töchtern. Sie bekamen irgendwie heraus, daß Ljonka früher gestohlen hatte und in Besserungsanstalten gewesen war. Sie schikanierten ihn. Und er mußte sein Recht auf das Studium mit den Fäusten verteidigen.

Nach einer Prügelei stellte die Direktorin, der Ljonka sowieso ein Dorn im Auge war, den Antrag, ihn auszuschließen. Am gleichen Tage traf ihn ein neues Mißgeschick: Krause, der deutsche Besitzer der Limonadenfabrik, machte ihn ausfindig. Ljonka hatte der Mutter verheimlicht, daß er aus der Fabrik weggelaufen war. Er hatte ihr weisgemacht, er habe die Fabrik nur verlassen, um wieder zur Schule zu gehen. Jetzt kam seine Lüge ans Tageslicht.

Aber die Mutter verzieh ihm, ja, sie half ihm sogar aus der Patsche. Mit großer Mühe trieb sie Geld auf und schickte Ljonka in die Fabrik mit dem Auftrag, dem Deutschen die Schulden zu bezahlen. Ljonka schämte sich, das Geld anzunehmen; er wußte, daß die Mutter Monate brauchen würde, um es abzuarbeiten, doch es gab keinen anderen Ausweg.

Auf dem Wege zur Fabrik kam er über den Trödelmarkt und ließ sich dort mit Falschspielern ein, in der Hoffnung, er könne der Mutter das Geld von dem Gewinn zurückzahlen. Aber schon nach zwanzig Minuten hatten ihm die Falschspieler fast sein gesamtes Geld — siebenhundert Millionen Rubel — abgegaunert.

Vor Verzweiflung wollte Ljonka in der Fontanka Selbstmord begehen. Vorher setzte er sich noch einmal in eine kleine Teestube an der Mutschnygasse, um sich für die letzten ihm verbliebenen „Eier“ richtig satt zu essen. Hier traf er seinen alten Freund Wolkow. Es war eine schicksalhafte Begegnung. Bereits am nächsten Tage war er in der Lage, seinem ehemaligen Chef die zerschlagenen Flaschen zu bezahlen. Der Mutler gab er das Geld zurück, raudite von nun an teure Zephirzigaretten, ging häufig ins Kino, staffierte sich neu aus und kaufte bei den Antiquitätenhändlern einen ganzen Berg von Büchern. Nach einem Monat stand er im Aufnahmeraum der Kriminalpolizei, und wieder einmal wurden ihm die Fingerabdrücke abgenommen. Zwei Wochen später marschierte er an einem Wintermorgen zur DostojewskiSchule, eine Einweisung der Gouvernementskommission für minderjährige Verbrecher in der Hand. Er ging freiwillig hin, weil er der Mutter keinen Kummer machen wollte. Aber im Grunde seines Herzens war er überzeugt, daß er höchstens zwei bis drei Wochen in der Schule bleiben würde. Er wußte genau, daß er hier ebenso Reißaus nehmen würde, wie er es bisher bei allen derartigen Instituten getan hatte.