Выбрать главу

„Ich habe überhaupt nicht dran gedacht.“

„Wieso nicht?“

„Ich bin doch kein Dummkopf!“

Wieder senkte sich Stille über die Klasse. Nur Mamachen kicherte erstickt.

„Erlaubt mal, was ist denn nun?“ Jankel wischte sich die schweißbedeckte Stirn. „Verdammt! Wir nahmen an, Vikniksor hätte dich wegen der Plätzchen in den Karzer gesteckt.“

„Hat er auch. Aber was habe ich damit zu tun?“

„Wieso hast du damit nichts zu tun?“

„Nee, gar nichts.“

„Puh!“ Jankel ärgerte sich allmählich. „Nun erkläre uns endlich, du Nervensäge, was los war.“

„Ganz einfach. Da gibt es nicht viel zu erklären. Er fragte: 'Weshalb wurdest du verprügelt? Wegen der Plätzchen?' Und ich antwortete: 'Ja, wegen der Plätzchen!'“

Pantelejew sah die Jungen an, und zum erstenmal erblickten die Schkider ein fröhliches, offenes Lächeln auf seinem knochigen Gesicht.

„Stimmt das etwa nicht?“ schmunzelte er. „Ihr habt mich doch wegen der Plätzchen verprügelt, ihr Teufel!“

Dröhnendes Gelächter der gesamten Klasse übertönte seine letzten Worte.

Der Friede war geschlossen. Und Pantelejew wurde endgültig als gleichberechtigtes Mitglied in die verschworene Schkid-Gemeinschaft aufgenommen.

Noch am gleichen Tage packte er sein Paket mit den Federhaltern, dem Schal und dem Fastenzucker wieder aus und legte den Inhalt an seinen Platz zurück. Und nach einiger Zeit dachte er überhaupt nicht mehr an Flucht. Die Jungen gewannen ihn lieb, und er fühlte sich ebenfalls zu vielen seiner neuen Kameraden hingezogen. Allmählich taute er auf und erzählte ihnen sein Leben. Besonders häufig erwähnte er dabei die Stadt Menselinsk. Er benutzte dieses Wort so oft, daß die Jungen ihn im Scherz den „Menselinsker“ nannten… Da trat ein Ereignis ein, das jeden Spott über den Neuen erstickte und ihn sogar in unerreichbare Höhen emporhob.

Etwa zwei Wochen vor seiner Aufnahme in die Schkid hatte Ljonka im Filmtheater „Empire“ an der Sadowajastraße einen amerikanischen Cowboyfilm gesehen. Im Vorprogramm waren Zauberkünstler und Jongleure aufgetreten, eine fischähnliche Sängerin in einem Schuppengewand hatte zwei Romanzen gesungen, zwei Mädchen hatten in Matrosenhosen den „Matelot“ getanzt, und am Schluß hatte ein Coupletsänger zu den Klängen eines kleinen Akkordeons „Knüttelverse über Tagesereignisse“ vorgetragen. Ljonka fand, er könne solche satirischen Verse mindestens ebensogut schreiben, und hatte deshalb, nach Hause zurückgekehrt, aus einem Heft ein Blatt Papier gerissen und hastig, um die Inspiration nicht zu verlieren, innerhalb von zehn Minuten sechs Vierzeiler skizziert. Darunter befand sich folgender:

Ist der Goldkurs hochgeschraubt von der NÖP mit Mühe, kostet, wenn man's auch kaum glaubt, drei Rubel eine Rübe.

Er hatte die „Knüttelverse über den Alltag“ nach einiger Überlegung der „Roten Zeitung“ eingeschickt und geschrieben, daß er diese Verse unbekannter Autoren gesammelt habe und daß man sie drucken solle. Danach hatte er mehrere Tage auf Antwort gewartet. Doch dann rollten die Ereignisse in Ljonkas Leben mit der Geschwindigkeit eines amerikanischen Cowboyfilms ab, und die Knüttelverse oder die „Rote Zeitung“ wurden ihm unwichtig. Er vergaß sie. Kurz darauf kam er in die Schkid. Eines Tages stürzte „Hühnchen“, ein Schüler aus der dritten Klasse, nach dem Unterricht atemlos und aufgeregt in die vierte Abteilung. In der Hand hielt er ein zerknülltes Zeitungsblatt. „Pantelejew! Bist du das?“ schrie er schon auf der Schwelle. „Was ist?“ Ljonka erblaßte. Sein Herz begann wie ein Hammer zu schlagen. Seine Hände und Füße wurden eiskalt. Hühnchen schwenkte das Zeitungsblatt wie eine Fahne. „Hast du der 'Roten Zeitung' ein Gedidit geschickt?“

„Ja… hab' ich…“, stammelte Ljonka.

„Na bitte. Das wußte ich doch. Die Jungens bestreiten das. Sie meinen, es könne nicht sein.“

„Zeig her.“ Ljonka streckte die Hand aus. Die anderen umdrängten ihn. Die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen und wollten sich nicht zu Zeilen zusammenfügen. „Wo? Wo?“ fragten die Jungen.

„Da! Unten mußt du hingucken“, stieß Hühnchen erregt hervor. „Wo. Briefkasten' drüber steht.“

Ljonka fand den „Briefkasten“, eine Spalte, in der die Redaktion den Autoren antwortete. An zweiter oder dritter Stelle fiel ihm sein Name in die Augen. Er war mit großen Buchstaben gedruckt. Nachdem das Geflimmer vor seinen Augen aufgehört hatte, las er vor: „Ah ALEXEJ PANTELEJEW. — Die von Ihnen eingesandten 'Knüttelverse über den Alltag' sind nicht von anonymen Autoren, sondern ein Gedicht, das Sie selbst verfaßt haben. Zur Veröffentlichung in unserer Rubrik nicht geeignet.“

Sekundenlang verweigerten Ljonkas eiskalte Füße ihm den Dienst. Alles Blut strömte ihm in die Ohren. Er glaubte, den Kameraden nicht mehr in die Augen sehen zu können. Gleich würden sie ihn auspfeifen, verhöhnen, dem Gelächter preisgeben.

Aber nichts von alledem geschah. Ljonka blickte auf und sah, daß die ihn umdrängenden Jungen ihn anstarrten, als stünde zwar nicht Puschkin, aber doch mindestens Block oder Majakowski vor ihnen.

„Dieser Pantelej!“ piepste Mamachen begeistert. „Hoch Ljonka!“ rief Zigeuner nicht ohne Neid. „Vielleicht ist er es gar nicht?“ zweifelte jemand. „Bist du es?“ wurde Ljonka gefragt. „Ja“, antwortete er und schlug die Augen nieder — und diesmal aus reiner Bescheidenheit. Die Zeitung ging von Hand zu Hand.

„Gib! Zeig her! Laß mich auch mal sehen!“ riefen die Jungen durcheinander.

Aber bald entführte Hühnchen ihnen die Zeitung. Und Ljonka spürte, daß ihm etwas sehr Wertvolles, Kostbares, ein Teil seines Ruhmes, ein Zeugnis seines Triumphes entführt wurde. Er suchte Alnikpop, den diensthabenden Erzieher, auf und flehte ihn in heller Aufregung an, ihn für fünf Minuten auf die Straße zu lassen. Nach kurzem Zaudern gab Alnikpop ihm einen Erlaubnisschein. An der Ecke Peterhofstraße und Ogorodnikow-Allee stand ein Zeitungskiosk. Dort kaufte Ljonka für 18000 Rubel die letzte Nummer der „Roten Zeitung“. Bei der Rückkehr zur Schkid blätterte er die Zeitung noch auf der Straße fünfmal auseinander und schaute in den „Briefkasten“. Wie in Hühnchens Exemplar stand das schwarz auf weiß: „An Alexej Pantelejew…“ Ljonka wurde der Held des Tages.

Bis zum Abend wallfahrteten die Jungen aus den unteren Klassen zu ihm. Immer wieder öffnete sich die Tür zur vierten Abteilung, und mehrere Personen steckten schüchtern den Kopf in den Raum. „Pantelej, zeig uns mal die Zeitung, ja?“ flehten die Knirpse. Ljonka lächelte herablassend, holte die Zeitung aus dem Fach und hielt sie allen Interessierten unter die Nase. Die Jungen lasen jedes Wort laut vor, schüttelten den Kopf und riefen „ach“ und „oh“ vor Erstaunen. „Bist du das?“ fragte jeder. „Ja“, erwiderte Ljonka bescheiden.

Sogar nachdem es zum Schlafengehen geklingelt hatte, wurde die Erörterung des außergewöhnlichen Ereignisses fortgesetzt. Gesättigt von Ruhm, schlummerte Ljonka ein.

Gegen vier Uhr morgens erwachte er, und sofort fiel ihm ein, daß am Vortage etwas sehr Wichtiges geschehen war. Die sorgfältig zusammengelegte Zeitung hatte er unter seinem Kopfkissen verwahrt. Vorsichtig holte er sie hervor und faltete sie auseinander. Im Schlafraum war es dunkel. Da schlich er barfuß, nur in Unterhose, ins Treppenhaus und las beim schwachen Licht der Glühbirne noch einmaclass="underline" „An ALEXEJ PANTELEJEW. — Die von Ihnen eingesandten 'Knüttelverse über den Alltag' sind nicht von anonymen Autoren, sondern ein Gedicht, das Sie selbst verfaßt haben. Zur Veröffentlichung in unserer Rubrik nicht geeignet.“

So kam noch ein Literat in die Republik Schkid, diesmal ein Literat von Rang und Namen. Schon nach kurzer Zeit war es ihm beschieden, seine Talente in der Schkider Arena vorzuführen — zum Wohle der Republik, die ihm eine neue Heimat wurde.