Das letzte Gutachten über Korolew stammte vom Psychoneurologischen Institut. Es war von Gribojedow, Professor der Psychiatrie, unterschrieben und lautete:
„Michail Korolew leidet an heftiger Neurasthenie, offenbar auf Grund von geistiger Überanstrengung. Im Sommer leidet er an Schlaflosigkeit, schläft zwei Nächte hintereinander fast gar nicht. Korolew braucht zur Erholung eine Wasser-, Licht- und Luftkur, die vielleicht im pädagogisch-klinischen Institut für Nervenkranke durchgeführt werden kann.“
Indessen erhielt Korolew keine „Wasser-, Licht- und Luftkur“. Die Sergijewka wurde aufgelöst, und er kam in die Schkid.
Hier bestätigten sich die ersten beiden Charakteristiken nicht. Korolew stahl nicht, er benahm sich ordentlich und randalierte mit Maßen. Auch Spuren von „geistiger Überanstrengung“ waren nicht festzustellen. Nur in einem Punkt erwies sich das Gutachten Professor Gribojedows als richtig. Korolew litt an Neurasthenie und Schlaflosigkeit. In seinen schlaflosen Nächten tobte er besinnungslos, beschimpfte die Erzieher mit den übelsten Worten, johlte und weinte. War er dann erwacht, wieder zur Besinnung gekommen, bereute er alles und wurde wieder zu einem „normalen Schwererziehbaren“. Soweit Michail Korolew. Der dritte im Bunde war Wolodja Starolinski.
Er war klein, hatte ein durchaus kindliches Gesicht und sah, was Kleidung und Figur betraf, wie ein Gymnasiast des alten Regimes aus. Er hatte keinen Vater mehr, nur eine Mutter und einen Stiefvater, von Beruf Lastfahrer. Auch Starolinski war Neurastheniker. Er litt an Kleptomanie. Wenn er seine Anfälle bekam, stahl er alles, was ihm in die Finger geriet. Außerdem war er ein besessener Kartenspieler. Diebstähle hatten ihn in die Sergijewka gebracht, genau wie seine Kameraden. In die Schkid kam er mit schlechtem Ruf.
Der vierte hieß Tichikow.
Die Sergijewka charakterisierte ihn folgendermaßen: „Jewgeni Tichikow stammt aus einer intellektuellen Familie, ist Vollwaise, hat einen Onkel. Er ist sehr begabt, eignet sich alles Wissen leicht an, lernt gut, ist aber zuweilen faul. Hat ein gutes Verhältnis zu seinen Kameraden, sondert sich aber ziemlich ab. Mag gemeinsame Spaziergänge nicht und versucht immer, unter einem Vorwand zu Hause zu bleiben. Zu den Älteren benimmt er sich zurückhaltend, widerspricht immer logisch und flucht fast nie. Verhält sich im Unterricht ordentlich. Raucht, spielt manchmal Karten, ist Schiebergeschäften nicht abgeneigt, im allgemeinen aber ein wißbegieriger, freundlicher, ernsthafter und etwas verschlossener Knabe.“
Tichikow hatte einen dreieckigen Kopf, eine hohe Stirn, einen winzigen, ungefügen Körper. Bis zum Ende seines Aufenthaltes in der Schkid blieb er verschlossen und randalierte nur selten. Als fest verschworene, untrennbare Einheit kam das Kleeblatt in die Schkid. Die Jungen glaubten, ihre Interessen gemeinsam verteidigen zu müssen. Durch die Erfahrungen in der Sergijewka belehrt, erwarteten sie keinen guten Empfang.
Doch sie irrten sich. Sie wurden sehr freundlich aufgenommen, wie übrigens auch alle anderen.
Schon am ersten Tage schloß sich Dshaparidse als der reifste an die Großen an. Als er erfuhr, daß in der Schkid Zeitungen herausgegeben wurden, äußerte er den Wunsch, eine Zeitschrift „Der Schachspieler“ zu veröffentlichen. Jankel, der wahrscheinlich darin einen Vorteil für sich sah, schloß mit ihm „Blutsbruderschaft im Bruch“. Kaufmann schloß mit Korolew Blutsbrüderschaft, und Pantelejew nahm Starolinski unter seinen Schutz.
Nur Tichikow blieb allein. Er saß dauernd auf seiner Bank, las Jules Verne oder ein anderes Buch und kaute. Er kaute unablässig, rülpste und kaute weiter. Deshalb bekam er späterhin den Spitznamen „Wiederkäuer“.
Das Kleeblatt hatte seine alten Spitznamen mitgebracht: Korolew hieß „Fläschchen“, Starolinski „Knabe“, Tichikow „Admiral“, und Dshaparidses Name war nicht druckfähig.
In der Schkid gelang es nur Tichikow, seinen Spitznamen „Admiral“ zu bewahren. Die übrigen wurden gleich am Ankunftstage umgetauft. „Dshaparidse ist zu lang“, erklärte Japs. „Und Schweinereien nehmen wir bei uns nicht als Spitznamen. Deshalb nennen wir dich einfach 'Dse'.“
„Das ist eure Sache“, stimmte der Grusinier zu. „Meinetwegen 'Dse'.“ Japs hatte Starolinski gleich als „Nackten Herrn“ bezeichnet. Er wurde also „Nackter Herr“ getauft, und später nannte man ihn den „Herrn“ oder den „Nackten“.
Korolew wurde „Happen“ getauft, weil er statt „Stück“ immer „Happen“ sagte: „Gib mir einen Happen Brot“ oder: „Leih mir ein Häppchen Sacharin.“
Gleichzeitig mit dem Sergijewker Kleeblatt traf „Sparbüchse“ in der Schkid ein, ein lautloses Männlein mit nebelhafter Vergangenheit.
SASCHA PYLNIKOW
Kosfalmed handelt *Schnell zur Gymnastik! * Die Heilung der Aussätzigen * „Alte Kameraden“ * Himmlisches Manna auf dem Klassenofen * Der Junge mit dem Weibergesicht * Der Pantoffel * Einbrechermanieren Rührmichnichtan.
Es klingelte, die Pause war zu Ende. Kostalmed kam in die Klasse der vierten Abteilung.
„Schnell zur Gymnastik!“
Widerwillig trotteten die Jungen aus dem Zimmer.
„Schnell!“ trieb Kostalmed sie an und klopfte mit seinem runden, polierten Stöckchen.
Japs und Jankel blieben auf ihrem Platz sitzen.
„Was ist mit euch?“ Kostalmed hob fragend die Brauen.
„Wir können nicht“, stammelte Japs mit verzerrtem Gesicht. „Uns tun die Beine weh.“
Kranke Schkider waren auf Anordnung Vikniksors von der Teilnahme am Gymnastikunterricht befreit.
„Zeigt her“, sagte Kostalmed.
Japs hinkte zu ihm hin und hob den bloßen Fuß. Die Ferse war gelb und geschwollen. In der Mitte hatte sich ein abscheulich aussehendes Geschwür gebildet.
„Eiterbeule im letzten Stadium“, erklärte Japs. „Ich komme kaum noch zur Toilette, von der Gymnastik kann gar keine Rede sein.“
„Schön, bleib hier“, antwortete Kostalmed. „Und du?“ Er sah Jankel an.
Jankel kroch beinahe auf allen vieren zu dem Propheten hin. „Ich habe keine Kraft mehr“, krächzte er. „Das verdammte Ding peinigt mich.“
Er schob die Hose hoch. Von der Kniekehle bis zum Becken zog sich eine fürchterliche, rote, blutunterlaufene Schramme. „Wo hast du dir das geholt?“ forschte Kostalmed mit gerunzelter Stirn.
„Beim Holzsägen“, antwortete Jankel. „Mit der Säge. Ich kann nicht laufen, Onkel Kostja, geschweige denn Übungen machen.“
„Bleib hier“, sagte Kostalmed zustimmend und verließ die Klasse.
Jankel schloß hinter ihm die Tür.
„So, Mann“, erklärte er dann. „Jetzt können wir uns wohl heilen.“
Er ging zu seiner Bank zurück, krempelte die Hose auf, spuckte sich in die Hand und wischte die entsetzliche Wunde mit einer einzigen Bewegung ab.
Japs tat das gleiche.
Geheilt setzten sie sich in ihre Bänke. Japs holte ein Buch hervor, Jankel eine angefangene Zeitung.
Jankel hatte sich dieses Mittel zum Gymnastikschwänzen ausgedacht.
Mit seinem Zeichentalent malte er gegen geringes Entgelt kunstvoll Eiterbeulen, Wunden, Geschwüre und anderes mehr. Kostalmed meinte, die Jungen seien tatsächlich krank. Und während er die Treppe zum Gymnastiksaal hinaufging, war sein Herz unter der rauhen Schale eines berufsmäßigen Propheten übervoll von Mitleid mit den unglücklichen Duldern.