'Das ist unlogisch', piepste Jelchowski. 'Ich hab' keine Schuld daran.'
'Unlogisch, ach nee! Sitz du erst mal in der fünften Gruppe!' mischte sich Jankel ein. Er hatte nicht einmal die Brotreste wegstecken können und malte sich schon das zweifelhafte Vergnügen aus, fünf Wochen lang ohne Urlaub und infolgedessen auch ohne zusätzliche Verpflegung im Heim hocken zu müssen.
Kostalmed kam in den Saal zurück. Er machte ein wütendes Gesicht — offenbar hatte er vom Chef einen Tadel bekommen. 'Stillgestanden!'
Wieder marschierte die Klasse rund um den Saal. Wieder spielte Bessowestin den Marsch:
Japs kochte vor Wut. Er wußte, daß er allein an dem Zwischenfall schuld war, aber er mußte seinen Zorn an jemandem auslassen, und deshalb nahm er sich den Neuen vor. Er trat ihm auf den Fuß, daß Jelchowski beinahe die Hausschuhe verlor, undpuffte ihnheimlich in den Rücken. Anfangs wollte sich Jelchowski nicht um die Piesackerei kümmern. Als sie aber überhandnahm, piepste er: ''Laß mich in Ruh'!' Japs wurde noch wütender und rückte dem Neuen immer dichter auf den Pelz. Er trat ihm auf den Schuh, daß Jelchowski hängenblieb, ihm die Schnalle abriß und er den Schuh verlor.
Japs' Benehmen wäre aufgefallen und hätte ihm eine noch empfindlichere Strafe zugezogen, wenn es nicht im selben Augenblick geklingelt hätte.
Die Jungen hatten beim Marschieren gesehen, wie Japs den Neuen piesackte. Jetzt umringten sie ihn.
Er hockte auf dem Boden, über den zerrissenen Schuh gebeugt. Sein Gesicht hatte sich verzogen. Er schien mit den Tränen zu kämpfen. Doch er weinte nicht. Statt dessen begann er zu niesen. Er nieste ganz sonderbar — sein Gesicht verkrampfte sich, und dann brachte er einen überraschend sanften Nieseton hervor: 'Hapsiii!' Er nieste häufig, in gleichmäßigen Abständen. Die Jungen standen verständnislos und neugierig um ihn herum.
'Was hat er denn?' fragte Japs erschrocken. 'Er niest', teilte Jankel mit. 'Das sehe ich, aber weshalb niest er?'
'Vielleicht aus Gewohnheit… so was ist erblich.'
'Ein Nieser', konstatierte einer.
Kaufmann bückte sich und schnippte Jelchowski schmerzhaft auf den Nacken. Da legte sich Ljonka Pantelejew ins Mittel. 'Warum verspottet ihr ihn?' fragte er. 'Dich hat man nicht so geschunden, Kaufmann, als du ein Neuer warst!' Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus.
'Das ist überhaupt nicht komisch', beharrte Pantelejew errötend. 'Ihr habt keinen Grund, mit eurer Humanität und eurer Freundlichkeit zu den Neuen zu prahlen, wenn ihr sie trotzdem prügelt. Stimmt das nicht?'
Niemand antwortete. Alle schwiegen, und bekanntlich kann das Schweigen Zustimmung ausdrücken.
Jelchowski hatte den zerrissenen Hausschuh inzwischen übergestreift und war aufgestanden. Er nieste zum letzten Male, sah die Jungen traurig an und heftete dann seinen dankbaren Blick auf Pantelejew. Als sie in die Klasse zurückgingen, trat Pantelejew im Korridor auf den Neuen zu. 'Wir wollen Blutsbrüder sein', sagte er. 'So werden hier die Freunde genannt. Wir wollen Freunde sein… ja?'
Jelchowski nickte wortlos. Pantelejew hielt ihm die Hand hin, und der Neue drückte sie herzhaft.
Pawel Jelchowski war in Smolensk geboren.
Sein Vater, Lehrer an der Elementarschule, gehörte zu den Menschen, die bei der alten Obrigkeit unbeliebt waren. Die Obrigkeit mochte allzu kluge, verschlossene und frei denkende Leute nicht. Pawels Vater war klug und frei denkend: Er gehörte zum sozialistischen Zirkel des Ortes. Deshalb wurde er von seinen Lehrpflichten entbunden, einfacher ausgedrückt — er wurde hinausgeworfen. Seitdem widmete er sich gänzlich der revolutionären Sache. Die Familie hungerte, die Kinder verwilderten. Der Vater suchte Arbeit, konnte aber keine finden. Die Mutter ging in Herrschaftshäuser waschen und scheuerte dort die Fußböden. Pawel verlebte eine freudlose Kindheit. Im Jahre 1917 wurde sein Vater auf der Straße von Kosaken ermordet. Pawel lebte eine Zeitlang bei der Mutter, dann gab sie ihn in ein Heim. Dort blieb er bis zum Jahre 1921. Sein älterer Bruder, ein Roter Kommissar, fuhr nach Petrograd zur Kriegsakademie und holte nach einem halben Jahre die Familie — Mutter, Schwester und den kleinen Pawel — zu sich. Nur einen Monat blieb Pawel bei ihm. Er randalierte wie wild, denn er war Hysteriker. Anfangs versuchte sein Bruder auf ihn einzuwirken. Als das nichts fruchtete, wandte er sich an die Abteilung Volksbildung. So kam Pawel in die Schkid. Sie empfing ihn feindselig. Als sie ihn aber später näher kennenlernte, liebte sie ihn wohl mehr als jeden anderen. Er war ein gutmütiger, ungewöhnlich warmherziger, nach Schkider Begriffen ehrenhafter Junge, und vor allem — er randalierte gern. Und das Randalieren wurde von den Schkidern bekanntlich abgöttisch verehrt. Am Tage nach Jelchowskis Ankunft sollten die Schkider ihre allwöchentliche Pilgerfahrt in die Badeanstalt machen. Alle vier Abteilungen hatten sich zum Namensaufruf im Saal aufgestellt. Nur der Neue fehlte. Alnikpop wurde ausgesandt, ihn zu suchen. Er kam nach kurzer Zeit wieder, ging zu Vikniksor und sprach mit ihm. Vikniksor wurde rot und rannte in die vierte Abteilung. Pawel Jelchowski saß auf seinem neuen Platz hinter Pantelejews Bank und las. Bei Vikniksors Eintritt hob er nicht einmal den Kopf. Vikniksor blieb einen Augenblick verdutzt stehen. 'Aufstehen!' rief er. Jelchowski sah ihn an, legte das Buch weg, blieb aber sitzen.
'Du sollst aufstehen!' brüllte der Direktor.
['was schreien Sie mich an!“ sagte Pawel gelassen, stützte die Hände auf den Pultdeckel und erhob sich.
„Weshalb gehst du nicht nach oben?“ forschte Vikniksor zornig und ging zu Pawels Bank.
„Was soll ich da?“ fragte der Junge zurück, ohne sich von der Stelle zu rühren.
„Was du da sollst? In die Badeanstalt gehen. Alle sind schon oben, nur du treibst dich noch hier herum. Bilde dir nicht ein, daß du bei uns machen kannst, was du willst. Keine Widerrede bitte, marsch nach oben!“
„Fällt mir nicht ein“, versetzte Pawel, ließ sich auf die Bank sinken und griff nach seinem Buch.
Wie ein Tiger stürzte Vikniksor auf ihn und krallte sich in seine Schultern.
„Nein, du gehst, und zwar sofort!“ brüllte er und zerrte Pawel aus der Bank.
Pawel setzte sich zur Wehr. Der Lärm lockte Lehrer und Schüler herbei.
„Ich will dir zeigen, wer hier zu bestimmen hat“, keuchte Vikniksor und versuchte, den Jungen auf den Korridor zu stoßen. Rot und zerzaust riß sich Pawel los. „Schuft!“ grölte er. Dann verzog sich sein Gesicht, und er brach in Tränen aus. Vikniksor war ebenso rot und zerzaust. Er hob den Kopf und rang nach Atem.
„In die fünfte Gruppe!“ stieß er hervor. Dann verließ er die Klasse. Dieser Zwischenfall machte den Neuen berühmt. Niemand wußte, weshalb er sich geweigert hatte, in die Badeanstalt zu gehen, und weshalb er dabei so randaliert hatte. Doch gerade das war ja für die Schkider höchstes Heldentum: zu randalieren um des Randalierens willen. Von diesem Augenblick an tat ihm niemand mehr etwas zuleide, obgleich das ganz gefahrlos gewesen wäre; denn er war schwächlich. Er bekam nur selten und immer aus unerfindlichen Gründen seine Wutanfälle, und auch das nur gegenüber den Vorgesetzten. Damals schwärmte die vierte Abteilung gerade für die Bücher Fjodor Sologubs. In einem Roman des seinerzeit bekannten Schriftstellers kommt Sascha Pylnikow vor, ein weibischer Junge. Japs wies die Klassenkameraden auf Jelchowskis Ähnlichkeit mit dieser Figur hin. Seitdem wurde Pawel nicht mehr „Nieser“ genannt, wie bisher, sondern „Sascha Pylnikow“.
Später hieß er außerdem noch „Rührmichnichtan“, „Baby“, „Postillion“. Meistens wurde er aber Sascha gerufen. Viele Jungen wußten nicht einmal daß sein wirklicher Name Pawel lautete.