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„Wann wurde unsere Verfassung angenommen?“ fragte er dann. Muttergottes runzelte die niedrige Stirn und dachte nach… Da begriffen alle, daß er tatsächlich eine „Niete“ war. Wahrscheinlich hatte ihn nur der Zufall in die Schkid verschlagen, denn politisches Wissen besaß er überhaupt nicht. „Die Verfassung?“ fragte er zurück. „Wißt ihr das denn nicht?“ „Wenn wir es wüßten, würden wir nicht fragen.“

„Die Verfassung wurde 1871 in Stockholm angenommen.“ Japs prustete los. Die anderen lachten mit. „Und wann fand der Fünfte Sowjetkongreß statt?“

„Na, das müßtet ihr doch wissen.“

„Wir wissen es eben nicht.“

„1919.“

„Nicht vielleicht 1918?“

Muttergottes, der Lehrer für Gesellschaftswissenschaft, schlug errötend die Augen nieder.

„Wenn ihr das wißt, braucht ihr mich nicht zu fragen.“

„Wurde die Verfassung nicht auf dem Fünften Kongreß angenommen?“

Muttergottes duckte sich und errötete noch tiefer. Dann richtete er sich plötzlich auf.

„Welche Verfassung meint ihr eigentlich?“

„Die von der RSFSR.“

„Das hättet ihr gleich sagen sollen. Ich glaubte, ihr meintet nicht diese Verfassung, sondern die erste, die im Jahre 1905…“ Es war sonnenklar, daß Muttergottes alles andere als ein Lehrer für Gesellschaftswissenschaft war. Die Schkider sahen ihren Traum entschwinden. Sie johlten durcheinander, sie stellten alle möglichen gesellschaftswissenschaftlichen Fragen, um den Lehrer zu verspotten. „Was ist Imperialismus?“

„Das wißt ihr nicht? Jedes Kind kennt den Imperialismus. Das ist, wenn ein Imperator regiert.“

„Wer war Stepan Chalturin?“[6]

„Ein General, der sich augenblicklich mit dem Großfürsten Nikolai im Ausland befindet.“

Bis zum Klingeln prasselten die spöttischen Fragen der Hooliganier auf Muttergottes in den rissigen Ledergamaschen ein. Als er aber unter Gejohle und Gelächter die Klasse verlassen hatte, ließen die Jungen den Kopf hängen. „Randalieren macht Spaß, aber der Lehrer ist 'ne Niete.“

„Ja, wir haben uns zu früh gefreut.“

Abends kam Vikniksor in die Klasse und hörte sich den Bericht der Jungen an. „Schlecht, sagt ihr?“

„Hoffnungslos, Viktor Nikolajewitsch.“

„Ein schwaches politisches Wissen?“

„Überhaupt keines.“ Vikniksor überlegte. „Dumme Sache!“ „Wo haben Sie den eigentlich aufgegabelt?“ erkundigte sich Ljonka. „In der Abteilung Volksbildung. Ganz zufällig. Ich fragte nach einem Lehrer für Gesellschaftswissenschaft, und da kam der Kerl zu mir und sagte, er könne darin unterrichten. Daraufhin habe ich ihn probeweise eingestellt.“

„Die Probe hat er nicht bestanden.“ Jankel grinste. „Nein“, pflichtete der Direktor bei, „das hat er nicht. Wir werden einen anderen suchen.“

Muttergottes gab in der Schkid keinen gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht mehr. Er verschwand, ohne sich von jemandem zu verabschieden, und seine Ledergamaschen tauchten niemals wieder auf. Vielleicht unterrichtet er jetzt irgendwo in elektrolytischer Krankenbehandlung oder angewandter Kosmographie… Vielleicht ist er auch Hungers gestorben, weil er keinen passenden Beruf fand.

Menschliche Silhouetten verschwammen in Wolken von Tabakrauch. Eine Schreibmaschine ratterte wie ein Maschinengewehr, und aus dem Nebenzimmer rasselte eine andere Schreibmaschine die Antwort. „Hören Sie, Genösse!“ rief einer vergnügt. „Geben Sie bitte die Sache in Zimmer 2 ab.“

„Zimmer 2? Vielen Dankl“ rief eine ebenso vergnügte Stimme aus der Ferne zurück.

Im Bezirkskomitee des Komsomol lief die Arbeit auf Hochtouren. Menschliche Silhouetten huschten durch den Tabakrauch. An den zerfetzten Gobelins der Wände hingen kleine, weiße, handgeschriebene Schilder:

Vikniksor tastete sich von Schild zu Schild an den Wänden entlang. Er ertrank fast in den Rauchwolken, fand aber trotzdem das Schild mit der Aufschrift:

Darunter saß ein junger bartloser Mann in Lederjacke und mit glattrasiertem Schädel. „Wollen Sie zu mir, Genösse?“

„Ja. Sie sind für Politbildung zuständig?“

„Bin ich. Worum handelt es sich?“

„Sehen Sie… Ich leite ein Kinderheim… Wir haben etwa sechzig Jungen… Sie möchten gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht haben. Gibt es in Ihrem Komitee vielleicht einen entsprechenden Lektor?“

Der Politbildungsmann fuhr sich über die hohe, glatte Stirn. „Besteht in Ihrem Heim eine Zelle oder ein Kollektiv des Komsomol?“

„Nein, das ist gerade der wunde Punkt. Ich muß Ihnen sagen, daß wir ein gefängnisähnliches Heim haben, eine Besserungsanstalt für Schwererziehbare.“ „Aha, ich verstehe… Das sind wohl Verwahrloste, Straßenjungen?“

„Ja. Aber sie wollen trotzdem lernen.“

„Moment.“

Der Politbildungsmann drehte sich um, nahm den Telefonhörer ab und drückte auf den Knopf.

„Politschule? Genösse Fjodorow, hast du vielleicht einen Instrukteur für ein Schwererziehbarenheim? Ja? Ausgezeichnet.“ Er legte den Hörer auf. „Geht in Ordnung. Lassen Sie Ihre Adresse da, morgen schicken wir einen.“

Gegen Abend kam er in die Schkid.

Die Hooliganier hatten das Licht ausgedreht und hockten um den warmen Ofen. Der Widerschein der Flammen glitt über die Wände und die seit dem Brand verrußte Decke. Von der Hitze glühten die Wangen und Knie der Jungen. Er trat in die Klasse und ging unbemerkt zum Ofen. „Wärmt ihr euch, Genossen?“ fragte er.

Die Jungen wandten sich um. Vor ihnen stand ein junger, nicht sehr großer Mann mit zurückgekämmtem Haar. Er hatte eine Segeltuchtasche in der Hand.

„Ja.“

„So. Ich bin ein Instrukteur vom Bezirkskomitee und soll euch in Gesellschaftswissenschaft unterrichten.“

Die Schkider schrien nicht hurra. Muttergottes hatte ihnen die Erfahrung beigebracht, daß die Gesellschaftswissenschaft ein unsicheres Pflaster sein kann.

„Setzen Sie sich.“ Jankel machte einen krummbeinigen Schemel frei. „Danke“, antwortete der Instrukteur. „Wir haben beide Platz.“ Er setzte sich und hielt die Hände an den Ofen. „Lest ihr Zeitungen?“

„Selten. Wenn wir zufällig eine bekommen, lesen wir sie. Unser Etat ist zu klein, um eine zu abonnieren.“ „Seid ihr trotzdem einigermaßen auf dem laufenden? Habt ihr vom vierten Jugendkongreß gelesen?“

„Etwas.“

„So. Und daß eine Delegation unserer Republik zur Konferenz von Genua eingeladen ist?“

„Ja.“

„Was meint ihr — soll man eine hinschicken?“

Unversehens kamen sie ins Gespräch. Die Jungen wurden lebhaft. Sie antworteten, stritten, fragten… und merkten dabei gar nicht, wie die Zeit bis zum Schlafengehen verstrich.

„Ich werde auch Erzieher bei euch sein“, sagte der Instrukteur, als er sich verabschiedete. „Der Direktor hat mich dazu aufgefordert.“ Diesmal riefen die Hooliganier wie aus einem Munde aufrichtig: „Hurra!“

Als sie sich dann auskleideten, tauschten sie ihre Eindrücke aus. „Das ist ein feiner Bursche! Keine Muttergottes, sondern ein richtiger Lehrer für Gesellschaftswissenschaft.“

Endlich hatte sich der Traum der Schkider verwirklicht — der lang ersehnte Lehrer war da.

PRÜFUNG

Zehn Stunden Unterricht * Neujahrsbankett Champagner aus Obstwein * Reden und Trinksprüche * Verlagskonferenz * Eine aktuelle Reportage * Spazierengehen.

In diesem Jahr gab es einen späten Winter. Lange dauerte der nasse Herbst, beharrlich behauptete er seine Position. Aber sosehr er auch mit Schmutz um sich spritzte — er mußte dennoch weichen. Behäbige Bürger zerrten Weihnachtsbäume durch den ersten Schnee. Wie die Spuren von Hühnerpfoten sahen die Tannenzweige auf dem weißen Schnee aus. Man konnte fast glauben, in der Stadt seien viele Menschen gestorben und würden nun begraben.

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6

(1856–1882) gründete 1878 den revolutionären „Nordbund russischer Arbeiter.“