Tonja lachte Grischka aus und nannte ihn „Grafenkutscher“. Er gewöhnte sich so an sie, daß er sich ohne sie langweilte. Und wer weiß, womit diese Freundschaft geendet hätte, wenn Grischka nicht dieses Unglück zugestoßen wäre. Er hatte bekanntlich mächtig randaliert, und daraufhin stellte ihm die Kanzlei des Heimes die Begleitpapiere zur Schkid aus.
In der letzten Nacht schliefen die beiden nicht. Grischka saß zusammengekrümmt bei der Freundin am Bett.
„Ich liebe dich“, flüsterte Tonja. „Wir wollen uns zum Abschied küssen.“
Sie gab Grischka einen innigen Kuß, schob ihn zurück und brach in Tränen aus.
„Laß das“, murmelte Grischka gerührt. „Zum Teufel mit den Burschen da.“
Um Tonja zu trösten, küßte er sie ebenfalls. Sie packte seine Hand. „Ich komm zu dir“, sagte sie. „Schwöre mir, daß du ebenfalls zu mir kommen willst.“
„Ich schwöre es!“ brummte Grischka niedergeschlagen. Am nächsten Morgen war er schon in der Schkid, abends ging er mit seinen neuen Freunden zum Stummelsammeln, und nach einer Woche war er verroht und hatte seinen Schwur vergessen. Doch eines Tages stürzte der Küchendiensthabende Brotkanten, außer sich vor Aufregung, in die Klasse.
„Leute!“ brüllte er und wollte sich vor Lachen ausschütten. „Leute! Da ist ein Mädchen, das nach Jankel fragt. Seine Braut.“ Die Klasse sperrte Mund und Nase auf. „Du lügst!“ rief Zigeuner. Jankel saß in der Ecke. Er schrak zusammen, böser Ahnungen voll.
„Du lügst“, stammelte er.
„So?“ fragte Brotkanten. „Ich lüge? Ach, du lieber Himmel! Los, hau ab!“
Jankel stand auf und schlich zur Tür. Er konnte kaum die Füße heben. Die gesamte Klasse schloß sich ihm johlend und kichernd an. „Die Liebe versetzt Berge!“ grölte Zigeuner lachend. „Woll'n mal sehen, was das für 'ne Braut ist.“
Brüllend, pfeifend brach der Strudel in die Küche ein und zog den vor Entsetzen gelähmten Jankel wie in einem Sog mit sich. Dort stand Tonja Markoni. Sie preßte sich an die Tür und starrte erschrocken auf die tanzenden, singenden, grimassenschneidenden Schkider, die sie umringten. „Da ist er, da ist dein Grischka!“
Schutzsuchend stürzte Tonja zu Jankel hin. Er nahm sie bei der Hand, blickte sich hilflos um, aber er suchte vergebens einen Ausgang aus diesem Hexentanz.
„Jankel hat 'ne Braut! Jankel hat 'ne Braut!“ schrien die Jungen und tanzten um das unglückliche Paar herum.
„Wie kommt es, daß ihr zwei seid?“ krähte Spatz Jankel wie ein Hahn ins Ohr.
„Huii-uu!“ kreischte plötzlich der ganze Kreis. Aufschreiend preßte Tonja die Hände an die Ohren. Jankel wurde es dunkel vor den Augen. Er duckte sich mit vorgerecktem Kopf wie ein Stier, stürzte davon und zerrte Tonja hinter sich her.
„Huii-uu!“ stöhnte, brüllte das ringsum tanzende vielgesichtige Ungeheuer. Jankel drängte sich zur Tür, stieß Tonja ins Treppenhaus und sprang hinterher. Einer schlug ihm noch auf den Kopf, ein anderer trat ihm in den Hintern, und wie ein Pfeil sauste er die Treppe hinunter.
Tonja stand unten auf dem Treppenabsatz. Ihre Lippen bebten. Sie schämte sich, Jankel anzusehen.
Jankel kratzte sich den Nacken und stotterte, die Jungens hätten nur Spaß gemacht, das sei bei ihnen so üblich. Er schämte und ärgerte sich — über sich selbst, über Tonja, über die Jungen. Ein richtiges Gespräch kam nicht in Gang. Tonja ging bald fort. Zwei Wochen lang setzte die ganze Schule Jankel zu. Er wurde geneckt, ausgelacht, verspottet und — meistens — entrüstet ausgeschimpft. Ein Schkider, der mit einem Mädchen befreundet ist! Schmach und Schande! Eine Schande für die ganze Schule!
Als Jankel dermaßen mit Hohn übergössen wurde, bedauerte er allmählich, sich mit einem Mädchen angefreundet zu haben. „Du Idiot, du Waschweib!“ beschimpfte er sich. Voller Entsetzen dachte er an die letzte Szene, aber im Grunde seines Herzens hegte er doch noch eine Art Mitleid für Tonja.
In dieser Zeit dachte Jankel über vieles nach. Endlich faßte er einen Entschluß, der einem richtigen Schkider angemessen war. Zwei Wochen später kam Tonja — mutig wie sie war — noch einmal zur Schkid. Sie blieb auf dem Hof und bat, Grischka Tschornych herunterzuschicken.
Jankel ging nicht zu ihr. Er sandte Mamachen.
„Wollen Sie zu Grischka?“ erkundigte sich Mamachen grinsend. „Grischka läßt Ihnen nämlich ausrichten, Sie sollen sich schleunigst heimscheren. Grüßen läßt Sie der Narwer Sowjet, das Putilow-Werk, der Wächter am Tor, die Bogomolow-Straße, der Hahn und die Henne, der Pope Jermoschka, und ich bin auch noch da!“ Mamachen deklamierte so lange, bis der gebeugte Rücken des Mädchens im Tor verschwunden war.
„Erledigt!“ meldete er, in die Klasse zurückgekehrt. „Sie ist verduftet!“
„Hast sie dir prima abgewimmelt, Jankel!“ Die Jungen waren begeistert. Jankel lächelte, aber er empfand keine Freude über seine Heldentat.
Die Ehre der Schkid war wiederhergestellt, doch ein trüber, schmutziger Fleck blieb auf Jankels Herz zurück. Und nun, zwei Jahre später, dachte Jankel wiederum an Tonja. Vor seinen Augen zerbrachen die Traditionen der guten alten Zeit. Was früher eine Schande gewesen war, galt jetzt als Heldentat. Jetzt erzählten alle — verliebt bis über beide Ohren — von ihren Freundinnen, und wer keine besaß, war unglücklich und wurde von allen verachtet. Warum habe ich sie damals weggeschickt? überlegte Jankel traurig, und bittere Gekränktheit über die Kameraden zerfraß ihm das Herz. Ihretwegen hatte er Tonja doch verjagt, und nun taten sie dasselbe, und niemand lachte sie aus.
Finster und wortkarg lief Jankel umher. Tonja ging ihm nicht aus dem Kopf, und mit jedem Tag wuchs der Wunsch, sie wiederzusehen, zu ihr zu gehen.
Einmal schüttete er Kostja Finkelstein sein Herz aus. Kostja hörte ihn an und kniff die dunklen, kurzsichtigen Augen zusammen. „Meiner Meinung nach solltest du zu ihr hingehen“, sagte er nachdrücklich.
„Findest du?“ fragte Jankel froh. „Ja.“
Es wurde Abend. Eilig wuschen sich die Schkider, putzten sich heraus, steckten sich eine Blume an und liefen nacheinander auf die Straße, jeder zu seinem heimlichen Treffpunkt.
Nur Kostja hatte es nicht eilig. Er holte einen Band seines geliebten Heine unter der Schulbank hervor, steckte sich ein vom Mittagessen übriggebliebenes Stück Brot in die Tasche und ging.
Ihm war es noch nicht beschieden, die Geliebte in qualvoller Ungeduld an der verabredeten Stelle — an der Apotheke oder dem Tabakladen — zu erwarten. Kostjas Herz schlief noch. Es klopfte einstweilen gelassen die Sekunden seines Lebens.
Kostja liebte nur Heine und den Park an der Kalinkin-Brücke. Es war ein kleiner, schmuddeliger, ungepflegter Park mit einem wackligen Eisengitter, aber Kostja gefiel er.
Jeden Tag ging er dorthin. Abseits von der lärmenden Straße setzte er sich behaglich auf eine Bank, holte den Brotkanten hervor, schlug den Gedichtband auf und vertiefte sich in die Lektüre. Und wenn er die ersten Zeilen überflogen hatte, verschwand die Umgebung für ihn, und eine neue, wundersame, farbenreiche Welt erstand vor seinen Augen.
Er hob den Kopf, blickte auf die Fontanka, die dunkel hinter dem Gitter vorüberfloß, und deklamierte begeistert:
Und in ekstatischem Entzücken betrachtete er die unauffällige Fontanka, die sich für ihn in den stillen, breiten Rhein verwandelt hatte, den Rhein, über dessen gelassen dahinziehende, smaragdene Wogen die Berge ragten. Und…