Kostja starrte in die Ferne, von dem Verlangen gepackt, im Nebel diesen Berg zu erblicken; er suchte die schönste Jungfrau mit dem goldenen Haar — lange, beharrlich, mit stockendem Atem. Aber die Lorelei war nicht zu sehen. Auf der Uferstraße rasselten die Wagen und schimpften die Kutscher. Da ließ Kostja traurig den Kopf sinken. Er spürte, wie Leid sein Herz umfing, und las weiter. Und wieder durchglühte ihn die Begeisterung, daß er unruhig hin und her rutschen, die Sätze laut vor sich hin sagen und die Seiten mit vor Erregung zitternden Fingern umwenden mußte, und dann starrte er in die graue, neblige Ferne. Und eines Tages erblickte er plötzlich die Lorelei. Sie kam von der Kalinkin-Brücke geradenwegs auf den Park zu, in dem Kostja saß. Ein leiser Wind spielte in ihrem üppigen goldenen Haar, daß es im Schein der untergehenden Sonne auffunkelte. Die Lorelei trug allerdings einen ganz gewöhnlichen kurzen Rock und eine weiße Bluse, doch Kostja sah nichts außer der goldenen Krone auf ihrem Haupt. Und wegen seiner Kurzsichtigkeit konnte er nicht einmal ihr Gesicht genau erkennen.
Unbeweglich saß er da, ein Stück Brot im Mund, und blickte der blonden Unbekannten verzückt nach. Langsam ging sie bis zum Ende des Parkes, kam ebenso langsam wieder zurück, setzte sich Kostja gegenüber und schlug die Beine übereinander.
Kostja entrang sich ein erstickter Seufzer. Kraftlos lehnte er sich zurück, die Augen unverwandt auf das goldhaarige Mädchen geheftet. Ja, wirbelte es ihm durch den Kopf. Das war die Lorelei. Genauso hatte er sie sich vorgestellt… Dieses wundersame Haar, das wie eine üppige Krone ihr herrliches, königliches Gesicht umgab… Kostja zweifelte nicht daran, daß ihr Gesicht herrlich sein müsse, obgleich seine kurzsichtigen Augen nur eine undeutliche Scheibe wahrnahmen.
Kostja vergaß sein Buch, wandte kein Auge von der Unbekannten und spürte sein Herz in der Brust hämmern. Mehrmals versuchte er mit aller Energie, sich auf sein Buch zu konzentrieren, aber vergebens. Kurz darauf sah er wieder zu ihr hinüber. Seine Gedanken überstürzten sich.
„Was soll ich tun?“ stammelte er aufgeregt. „Wie kann ich mich ihr nähern?“
Er durfte doch nicht so weggehen. Er mußte vor sie hintreten und sagen…
„Was soll ich sagen?“ fragte er sich zum zwanzigsten Male zornig. „Was soll ich bloß sagen?“
Eine halbe Stunde verging. Kostja blieb sitzen, durchbohrte die Unbekannte mit feurigen Blicken und zerbrach sich den Kopf, wie er ein Gespräch mit ihr anfangen könne.
„Lorelei!“ flüsterte er erschüttert. „Ich komme zu dir, Lorelei…“ Doch die Lorelei stand plötzlich auf, schüttelte ihr Kleid aus und ging langsam aus dem Park.
Alle Freude war wie ausgelöscht. Es wurde langweilig und kalt. Eine Horde Betrunkener brach in den Park ein und grölte:
Kostja klappte das Buch zu, erhob sich und trottete niedergeschlagen zum Ausgang…
Am nächsten Tage war er mürrisch und zerstreut. Beim Unterricht saß er gedankenversunken da, die Augen in die Ferne gerichtet. Er hörte unaufmerksam zu, murmelte etwas vor sich hin, und als Onkel Dima in der Russischstunde fragte, welche Werke aus der russischen Gegenwartsliteratur die besten seien, antwortete er: „Die Lorelei.“
„Die Lorelei?“ fragte Onkel Dima zurück. Die Klasse lachte schallend. Kostja fuhr zusammen. „Er hat sich an Heine festgelesen!“ riefen die Jungen. Doch als der Unterricht beendet war, wurde Kostja wieder lebendig. Er griff nach seinem Buch und rannte als erster aus der Klasse. Während die anderen erst anfingen, sich zu waschen, schritt er bereits die Alt-Petershofer Allee hinunter.
Da war die Brücke. Kostja lief zum Park, seine erregten Blicke überflogen die Bänke, und plötzlich schrak er vor Freude zusammen.
„Da!“ Er schrie es beinahe, als er das leuchtende Haar erblickte. „Da ist sie, die Lorelei!“
Er stürzte in den Park, ließ sich auf seine Bank fallen und starrte die Lorelei in wortlosem Entzücken an, hingerissen, begeistert, drauf und dran, vor Freude zu schreien.
Sie ist gekommen! Sie hat mich bemerkt! Welch wundersames, wortloses Wiedersehen!
Aber vergeblich suchte er sich zu überwinden und zu der Unbekannten hinzugehen. Die verdammte Schüchternheit lahmte seine Glieder. Wieder saß Kostja eine geschlagene halbe Stunde da. Es dämmerte schon, aber er hockte wie angeschmiedet auf seiner Bank und weinte beinahe vor Wut. Und ebenso plötzlich wie am Tage zuvor erhob sich die Lorelei und eilte zum Ausgang.
Kostja sprang auf. Er wußte nicht, was er tun sollte. Da fiel der Unbekannten etwas Weißes aus der Hand. „Ein Taschentuch!“ Kostja klopfte das Herz bis in den Hals. In rasender Eile zogen herrliche Szenen an seinen Augen vorüber: Pagen, Ritter, Damen, ein verlorenes Tüchlein… Er stürzte zu dem weißen Häuflein, das am Wege lag, raffte es auf und faltete es auseinander.
Es war ein Einwickelpapier von einem Bonbon, auf dem eine blonde Tänzerin abgebildet war. Darunter stand: „Die Bajadere.“ Spätnachts wälzte sich Kostja in seinem Bett herum und flüsterte melancholisch:
Dann holte er das Papier aus der Hosentasche, strich es sorgfältig glatt und vertiefte sich in den Anblick der blonden Bajadere. Es kam ihm vor, als sei das kein Bonbonpapier, sondern ein Porträt der schönen Unbekannten, die er anbetete. Vorsichtig, um das Papier nicht zu zerknittern, legte er es unter sein Kopfkissen und schlief mit glücklichem Lächeln ein. Am folgenden Tage war Kostja wiederum im Park. Und dann noch mal… und noch mal… Immer schien die Unbekannte ihn zu erwarten. Er aber hockte den ganzen Abend schmachtend auf der Bank und ging heim, ohne den Entschluß gefaßt zu haben, sie anzureden. Für den Unterricht interessierte er sich überhaupt nicht mehr. Er schrieb Gedichte oder träumte vor sich hin. Sogar seine Liebe für Heine erkaltete.
Die Schkider zankten und versöhnten sich, begannen neue Liebschaften; aber Kostjas seltsamer Roman schien noch immer gerade erst anzufangen.
Kostja ging in den Park. Er setzte sich auf seinen Platz, der Lorelei gegenüber, schlug anstandshalber sein Buch auf und heftete ziemlich kühne Blicke auf die Unbekannte.
Er hatte sich an sie gewöhnt. Heute war er fest entschlossen, sie anzureden, und dann… Aber weshalb in die Zukunft blicken? Kostja klappte das Buch zu und stand energisch auf. Er schritt auf die Lorelei zu und formulierte in Gedanken den Satz, mit dem er ihr sogleich seine Absichten kundtun wollte. Er war schließlich kein Vagabund und nicht gewillt, ihr irgendwelche Beleidigungen zuzufügen… Doch da stockte Kostjas Schritt.
Ein breitschultriger Bursche in einem gestreiften Sporthemd schwankte auf die Unbekannte zu.
„Na, Puppe!“ hörte Kostja eine rohe Stimme rufen. Es folgte ein langer, einfallsreicher Fluch.
Kostja erstarrte. Er hörte die Lorelei leise aufschreien. Immer deutlicher drangen grobe Schimpfworte, die heisere Stimme des Burschen und die Rufe der Unbekannten an sein Ohr. Dabei klang ihre Stimme durchaus nicht so silbern, wie Kostja es sich vorgestellt hatte. Er wußte noch nicht, was er tun sollte, und stand unentschlossen da, als der Bursche plötzlich fluchend ausholte und die Unbekannte schlagen wollte.
„A-a-a! Er will mich umbringen!“ schrie das Mädchen. „Halt!“ brüllte Kostja, sprang auf den Burschen zu und hielt seinen Arm fest. „Rühr dich nicht von der Stelle!“
Der Bursche trat einen Schritt zurück und versuchte sich loszureißen, aber Kostja ließ seinen Arm nicht frei und schrie, so laut er konnte: „Schurke! Wie kannst du es wagen!“ Neugierige sammelten sich um sie. Erschrocken blickte sich der Bursche um. Kostja wandte sich triumphierend der Unbekannten zu. „Haben Sie keine Angst!“ sagte er. Doch da stockte er und wich in wortlosem Entsetzen zurück. Zum erstenmal sah er die Lorelei, von der er in langen schlaflosen Nächten so glühend geträumt hatte, aus der Nähe. Was war das für eine Lorelei! Ein stumpfsinniges, häßliches, pockennarbiges Gesicht, von rötlichem zerzaustem Haar umgeben, blickte ihn an. Und zu allem Überfluß roch die Person nach Schnaps. Wie festgewurzelt stand Kostja da, unfähig, ein Wort hervorzubringen.