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„Was ist hier passiert?“ forschten die Umstehenden. „Nichts weiter“, rechtfertigte sich der Bursche. „Ich und meine Alte stehen in friedlichem Gespräch zusammen, da kommt der ran und fängt 'ne Keilerei an…“ „Das stimmt nicht, Bürger!“ stieß Kostja hervor.

„Wieso nicht?“ kreischte die Lorelei, schmiegte sich an den Burschen und schrie, auf Kostja zeigend: „So 'n schwarzer Vagabund! Wir unterhalten uns, und er…“

„Dem gehört was in die Fresse“, meinte einer. „Ich wollte sie verteidigen“, rief Kostja.

„Ich will dir mal zeigen, was verteidigen heißt!“ grölte der Bursche, wieder mutig geworden, und drang auf Kostja ein. „Ich tränk es dir ein, du grindiger Knoten, du verdammter!..“ „Er hat recht!“ bestätigte einer. „Solche Burschen muß man Mores lehren.“

Hilflos sah sich Kostja um, und als er nichts als drohende Gesichter erblickte, wandte er sich zum Ausgang.

„Hau ab!“ wurde ihm nachgerufen. „Verdufte!“

Langsam ging Kostja heim.

Mehrere Tage lang dachte Jankel an Tonja, und ihm wurde immer klarer, daß Kostja recht hatte.

„Ich geh' hin!“ beschloß er schließlich. Die Sehnsucht überwältigte ihn. Er mußte das schwarzäugige Mädchen wiedersehen. So machte er sich auf den Weg.

Das Auffangheim war in der Nähe derSchkid, in der Kurländer Straße. Das zweistöckige Gebäude wurde von einem kleinen Garten umgeben. Mit klopfendem Herzen blieb Jankel an der Pforte stehen. Auf dem Hof spielten ein paar Mädchen in grauen Anstaltskleidern Ball. Vielleicht ist sie nicht mehr hier? In ein anderes Heim versetzt? dachte Jankel. Halb besorgt, halb freudig öffnete er die Pforte und trat in den Hof.

„Oh, ein Junge!“ rief ein Mädchen. Sie hörten auf zu spielen und betrachteten ihn von weitem.

„Was willst du hier?“ fragte ein stupsnäsiges Mädchen und schwenkte kriegerisch den Ballschläger. Jankel holte tief Luft. „Ich möchte zu Tonja“, sagte er. „Zu Tonja Markoni.“ „Zu Tonja?“ riefen mehrere Mädchen. Sie liefen zur Treppe. „Tonja, Tonja, komm heraus! Da fragt so 'n Zwerg nach dir!“ Jankel stand mehr tot als lebendig da. Er bereute, überhaupt hergekommen zu sein, und begriff, daß er sich in ein hoffnungsloses Unterfangen eingelassen hatte. Verzagt sah er sich nach der Pforte um, aber eine wohlbekannte Stimme veranlaß te ihn, stehenzubleiben.

„Was brüllt ihr so? Schämt ihr euch nicht?“ Es war Tonja. Die Mädchen verstummten und traten zurück. Jankel sah, daß Tonja größer geworden war und sich verändert hatte. Sie ging zu ihm hin, blieb stehen, musterte Jankel von Kopf bis Fuß und hob erstaunt die Augenbrauen. Sie erkannte den Grischka von früher nicht. „Was wünschen Sie?“ fragte sie sachlich.

Jankel verlor endgültig die Fassung. Alle Worte, die er sich unterwegs ausgedacht hatte, waren aus seinem Kopf wie weggeblasen. „Guten Tag, Tonja“, stammte er. „Erkennst du mich nicht?“ Das Mädchen sah Jankel eine Weile aufmerksam an, und plötzlich stieg ihr das Blut ins Gesicht. Jetzt hat sie mich erkannt! dachte Jankel froh.

„Tonja!“ sagte er eifrig. „Tonja, ich hab' meinen Schwur doch nicht vergessen… du siehst…“

Tonja antwortete nicht. Ihr Gesicht verzog sich, als wolle sie in Tränen ausbrechen. Jankel stockte verwirrt.

„Und du… denkst du noch an deinen Schwur?“ fragte er zaghaft. Tonja schwieg noch immer. Sie schien nachzudenken. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Nein, ich erinnere mich an nichts“, sagte sie dann leise. „Soo!“ brummte Jankel Ungläubig. „Und daß wir uns abends immer unterhalten haben, weißt du auch nicht mehr?“

„Nein.“

„Und deinen Papa, den amerikanischen Erfinder, hast du auch…“ Jankel verstummte und sah Tonja erschrocken an. Sie biß sich mit blassem Gesicht auf die Lippen und betrachtete ihn haßerfüllt. Es sah aus, als würde sie im nächsten Augenblick losschreien, mit den Füßen trampeln, ihn beschimpfen.

„Tonja!“ rief eine helle Stimme. „Mach die Bibliothek auf!“ „Gleich!“ rief Tonja. Als sie sich Jankel wieder zuwandte, war ihr Gesicht ruhig geworden.

„Hören Sie“, sagte sie still. „Machen Sie, daß Sie wegkommen!“

„Weg?“ fragte Jankel. Mit verlorenem Lächeln wiederholte er fassungslos: „Weg? Für immer?“

„Ja, ganz weg.“

„Endgültig?“

Jankel schloß die Pforte hinter sich.

„Und der Schwur?“ fragte er mit bebender Stimme, die Augen auf Tonja geheftet. Etwas wie Wärme blitzte in ihren Augen auf, aber es war sofort wieder verschwunden.

„Er ist dir zu spät wieder eingefallen“, sagte sie leise. „Es ist alles zu Ende.“

„Für immer?“

„Ja.“

Jankel knurrte traurig, spuckte sich auf die Stiefelspitze und trollte sich.

Langsam schlenderte Jankel dahin und dachte an das eben Erlebte. Vor der Schule wurde er von einer Bekannten, einer Verkäuferin, angesprochen.

„Grischka! Magst du einen Bonbon?“

„Gib her!“ sagte Jankel und streckte, ohne hinzusehen, die Hand aus.

Das Mädchen wollte schon lange mit ihm anbändeln, aber er hatte sich bisher nicht darum gekümmert.

Die Verkäuferin kramte die Bonbons hervor, sah Jankel an und schwatzte ohne Unterlaß.

Jankel hörte nicht zu. Plötzlich durchfuhr ihn ein Gedanke. Gut! sagte er sich. Soll sie mich doch verschmähen. Ich weine ihr nicht nach.

Er warf dem Mädchen einen schnellen Blick zu. „Soll ich mit dir Spazierengehen?“ fragte er.

„Aber nur, wenn ich dir gefalle…“

„Darauf kommt's nicht an“, meinte Jankel. „Also morgen um sieben.“ Damit ging er in die Schule.

„Kostja spielt verrückt!“ schrie Mamachen, als Jankel in der Tür erschien. „Wo ist er?“

„In der Toilette. Er hat sich eingeschlossen und schreit und läßt niemanden rein.“

Jankel rannte die Treppe hinauf. Wilder Lärm hallte ihm entgegen. In der Klasse war eine Keilerei im Gange. Die Jungen hatten Kostja aus der Toilette gezerrt. Er schlug um sich und schrie, sie sollten ihn loslassen. Dann riß er sich los und kletterte auf das Fensterbrett. Die Jungen hielten ihn fest, er wand sich und brüllte wie rasend: „Laßt mich, ich kann nicht mehr!“

Schließlich gelang es den Jungen, ihn zu überwältigen und zurück-zuzerren.

Still saß er dann in der Ecke und griff sich nur zuweilen zähneknirschend an den Kopf.

Spätabends hockten Jankel und Kostja im Saal.

„Spuck auf alles!“ tröstete Jankel. „Mädels gibt es viele. Ich hab' mir jetzt auch so eine Puppe aufgegabelt, die schenkt mir Bonbons.“ Er holte eine Handvoll heraus. Kostja wollte danach greifen, aber er wandte sich ab. Auf dem Bonbonpapier tanzte eine blonde Bajadere. „Ich esse keine Süßigkeiten“, sagte er mit gerunzelter Stirn. Dann sah er Jankel an. „Warst du bei deiner?“

„Bei wem?“ Jankel machte ein erstauntes Gesicht. „Bei der, von der ich dir erzählt habe?“

„Na ja.“ „So was Dummes!“ Jankel brach in schallendes Gelächter aus. „So was Dummes! Ich hab's gerade nötig, mich mit der ersten besten rumzutreiben. So'n Idiot bin idi nicht.“ Er verstummte und fügte dann kummervoll hinzu: „Weißt du, auf die Weiber kann man sich doch nicht verlassen!“

Der Frühling tat das Seine. Ein unruhiger Gast randalierte in den Mauern der Schkid — die Liebe.

Niemand weiß, wieviel Tinte auf Briefpapier vergeudet, wie viele leidenschaftliche, zärtliche Worte, wieviel Kosenamen von groben, jeder Zartheit entwöhnten Lippen gesprochen wurden. Selbst Kaufmann, der zu faul war, um Bekanntschaften zu suchen, und zu schwerfällig, um ganze Abende lang törichte Liebesworte zu schwatzen, selbst er spürte etwas von der allgemeinen Erregung. Mit merkwürdig freundlichen Blicken verfolgte er die Köchin Marta, lief dauernd in die Küche und störte dort alle.