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Aiwasowski hob den Kopf. Das Gesicht des Vierzigjährigen war tränenüberströmt. Den Jungen verging das Mitleid — so ein widerwärtiger Anblick!

„Pfui!“ Kaufmann spuckte aus. „Flennt wie ein Weib. Und so was ist nun Prophet. Nicht mal ein Baby würde dabei heulen. Solche Leute muß man ja geradezu verdreschen.“

„Laßt nur, das macht nichts“, sagte Aiwasowski mit kläglichem Lächeln.

Nun empfanden die Jungen wieder Mitleid. Sie schämten sich sogar. „Verzeihen Sie uns, Sergej Petrowitsch“, brummte Japs. „Schreiben Sie uns der Form halber einen Kollektivtadel ein, aber verzeihen Sie uns als Mensch.“

„Macht nichts“, wiederholte Krokodil. „Ich verzeihe euch und werde niemanden einschreiben.“

„Das ist ein Mann!“ meinte Ljonka. „Er wird verprügelt, doch er verzeiht. Kein Prophet, sondern ein Tolstoianer, wie er im Buche steht.“ Aiwasowski stand auf. „Ich gehe jetzt.“

In der geöffneten Tür drehte er sich plötzlich scharf um und schrie mit blutrotem Gesicht: „Das tränke ich euch ein, ihr Teufel! Ich… ich dreh' euch die Gurgel um!“ Damit rannte er aus der Klasse.

Aiwasowskis Verhalten erregte allgemeine Wut. Die Szene mit der „christlichen Verzeihung“ hatte Folgen: Krokodil bekam auch in der dritten Abteilung „Saures“.

Die Schlammanier verprügelten ihn gründlich, und als er auch bei ihnen die rührende Szene der „allgemeinen Versöhnung“ zu spielen versuchte, bekam er noch eine Zugabe. Sie verdroschen ihn nicht mit Büchern, sondern mit Gymnastikstöcken und mit dem Feuerhaken.

Auf beide Abteilungen prasselte ein Hagel von Tadeln herab, und alle Schüler aus der dritten und vierten Klasse saßen dauernd in der vierten oder fünften Gruppe.

Die Reaktion auf die Verschärfung der Strafen war ein Riesenradau…

Krokodil wurde seine blauen Flecke nicht mehr los.

In der „Chronik“ jener Tage finden sich Eintragungen wie: „Jeonin und Korolew ließen ihre Mitschüler nicht schlafen. Mehrere Stunden lang schrien, lachten und schwatzten sie, beschimpften den Lehrer, belegten ihn mit allen möglichen Namen, besonders Korolew, der wiederholt zum Bett des Erziehers ging und versuchte, ihn zu schlagen und anderes mehr.“

Oder:

„Pantelejew sagte im Schlafraum zu Jeonin: 'Gib mir einen Stiefel, ich will den Erzieher damit verprügeln.'“

Oder:

„Ein Zögling warf einen Stiefel nach dem Erzieher. Die Schüler der dritten und vierten Abteilung billigten diese Tat einmütig.“ Die Überfülle der Eintragungen in die „Chronik“ gab dem Pädagogischen Rat, besonders Vikniksor selbst, schwer zu denken. Es mußte ein Mittel gefunden werden, um die Zöglinge vom Randalieren abzulenken und ihnen zu helfen, endlich aus der fünften Gruppe herauszukommen.

Vikniksor zerbrach sich den Kopf.

„Jungen!“ erklärte er eines Tages beim Abendessen. „Bisher hat es bei uns nur negative Eintragungen gegeben. Jetzt wollen wir auch positive einführen. Jede eurer guten Taten wird in die 'Chronik' eingeschrieben werden. Plus und Minus ist gleich Null. Eine gute Eintragung macht eine schlechte ungültig.“ Die Schkider jubelten, aber nur kurze Zeit.

Schnell stellte sich heraus, daß „gute Tat“ ein verschwommener Begriff war.

Am gleichen Tage setzte sich nämlich Kaufmann, der das Geographiebuch ein halbes Jahr lang nicht mehr zur Hand genommen hatte, hin und paukte achtzehn Seiten des „Europäischen Rußlands“ ein. Er erhielt aber keine positive Eintragung, weil festgestellt wurde, daß es zwar lobenswert ist, seine Aufgaben zu machen, aber nicht außergewöhnlich — man muß lernen, ohne auf Eintragungen zu spekulieren. Alle ließen den Kopf hängen, und Kaufmann, der sich seine Dummheit nicht verzeihen konnte, verdrosch vor Wut das Krokodil. Da fand Vikniksor einen Ausweg.

„Als gute Tat“, sagte er, „wird jede freiwillige Arbeit für die Gemeinschaft angerechnet, also scheuern, fegen, Holz hacken und ähnliches.“ Nun stürzten sich die Schkider auf Schrubber, Sägen und Scheuertücher, um positive Eintragungen einzuheimsen. Häufig schrieben die Erzieher die Eintragungen ohne Nachprüfung in die „Chronik“. Das brachte den listigen, erfindungsreichen Jankel auf eine Idee.

Er ging zum Krokodil.

„Schreiben Sie mich bitte in die 'Chronik'“, sagte er. „Ich habe die Toilette aufgewischt.“

Stracks ging Aiwasowski in die Kanzlei und schrieb: „Tschornych wischte freiwillig die Toilette auf.“

Das gefiel Jankel. Nach einer halben Stunde ging er wieder zum Krokodil.

„Ich hab' den oberen Saal gefegt — schreiben Sie das auf.“ Krokodil warf dem Zögling einen ungläubigen Blick zu, ging aber trotzdem, um diese Tat aufzuschreiben. Jankel, dessen Konto mit einem Dutzend negativer Eintragungen belastet war, wurde frech: „Den unteren Saal hab' ich auch gefegt“, rief er dem Davongehenden nach. „Schreiben Sie das extra auf.“

Aber es gelang Jankel nicht, seine Erfindung zu monopolisieren. Bald setzte die ganze Schkid Krokodil zu. Jeden Tag mußte er fünf bis zehn positive Eintragungen machen.

Die Schkid hatte sich aus der fünften Gruppe herausgearbeitet und war schon auf dem besten Wege zur ersten, als Vikniksor den Mißbrauch, der mit Krokodil getrieben wurde, bemerkte und dem letzteren verbot, positive Eintragungen zu machen. In dieser Zeit tauchten die ersten „Ablaßscheine“ auf. Krokodil war auf der letzten Stufe der Erniedrigung angelangt. Wenn er verdroschen wurde, bettelte und flehte er, man möge ihn nicht prügeln, und entschuldigte sich sogar.

„Ich bitte um Verzeihung“, sagte er zu dem Zögling, der ihm in einer Anwandlung von Humor auf den Fuß getreten hatte. Er hielt sich zurück und machte nur im äußersten Notfall negative Eintragungen. Da kam Japs auf folgenden Gedanken.

„Wir wissen“, sagte er, „daß Vikniksor Sie veranlaßt, uns Tadel einzuschreiben. Sonst hätten Sie Angst, den Propheten zu spielen.“

„Ja, du hast recht, ich bin dazu gezwungen“, pflichtete Aiwasowski bei.

„Und darum“, fuhr Japs fort, „schlage ich vor, daß Sie uns für jede negative Eintragung eine Bescheinigung, einen Ablaßschein, ausstellen, dessen Inhaber Sie jederzeit verprügeln darf, ohne daß Sie Widerstand leisten.“

Kaufmann stand bei dieser Unterhaltung daneben. Daher wagte Krokodil nicht zu mucksen und willigte widerspruchslos ein. Und wenn er nun einen Tadel eintrug, unterschrieb er jedesmal dem betreffenden Zögling folgende Bescheinigung:

Ablaßschein

Der Inhaber dieses Scheines hat das Recht, mich an jedem Tage und zu jeder Stunde zu verprügeln, wenn ich keinen Unterricht gebe und nicht im Lehrerzimmer bin.

S. P. Aiwasowski

Text und Form des „Ablaßscheines“ stammten von Japs. Er war auch der erste, der so einen Schein bekam. Doch er verprügelte Krokodil nicht, sondern hob den Schein auf.

Aiwasowski kam in die Klasse.

„Ich habe ein Anliegen an Sie“, erklärte Japs.

„Was für eines?“ fragte Krokodil und setzte sich auf seinen Platz.

Japs ging zu ihm hin, holte ein Päckchen Scheine aus der Tasche, zählte es nach und legte es auf den Tisch. „Achtundzwanzig Stück, Sir“, stellte er fest.

„Was ist das?“ stammelte Krokodil erblassend.

„Ablaßscheine, geliebter Freund, Ablaßscheine“, erwiderte Japs. „Na, nun stell mir mal deinen Rücken zur Verfügung.“

Es gab einen heillosen Tumult in der Klasse. Alle wollten ihre Ablaßscheine einlösen. Die Jungen drängten sich um den Tisch des kläglichen Propheten, und Kaufmann war gerade dabei, ihn zu verprügeln, als eine donnernde Stimme rief: „Genug!“

Die Jungen wandten sich um. Vikniksor stand an der Tür. Er hatte dem Schauspiel schon länger als eine Minute verblüfft zugesehen. „Genug“, wiederholte er. „Geht auf eure Plätze.“ Er warf einen Blick auf Krokodil, der sich den Rock zurechtzog. „Ich muß einen Augenblick mit Ihnen reden…“