„Nein“, seufzte Sascha.
„Na, dann müssen wir uns den Kopf zerbrechen, wo wir 'ne Bleibe finden.“
„Ja.“ Sascha nickte. Die Blutsbrüder überlegten.
„Ich hab's!“ erklärte Ljonka. „Im Seitenflügel ist 'ne Kammer unter der Treppe, da krauchen wir rein.“
Sie standen auf und zogen los. Tatsächlich waren in der Treppe, die sie gestern benutzt hatten, um aufs Dach zu kommen, mehrere Stufen eingebrochen. Auf diese Weise hatte sich ein Spalt gebildet, durch den die Freunde nun in einen dunklen, engen Verschlag kletterten. Ljonka riß ein Streichholz an. Das kleine gelbe Feuer schwelte und flackerte in der feuchten Luft. Die Jungen sahen sich um und erschauerten. Die Backsteinwände waren glitschig vor Nässe. Braune Moosfetzen hingen daran. Auf dem Fußboden lagen alte, schmutzige, zerrissene Matratzen. Die Füße versanken in der grauen, vor Nässe klebrigen Wergfüllung.
„Relativ komfortabel“, versuchte Ljonka zu spotten, aber seine Stimme klang dumpf und gequält.
„Widerlich, in solchem Dreck zu schlafen!“ Sascha runzelte die Stirn und trat gegen einen Werghaufen.
„Was soll'n wir machen? Laß nur, Mann, daran gewöhnst du dich.“ Ljonka hatte in seinem Leben schon in ekelhafteren Höhlen übernachten müssen. Er ging jetzt dem Freund mit gutem Beispiel voran, unterdrückte seinen Abscheu und ließ sich auf dem feuchten, ungemütlichen Lager nieder. Sascha legte sich neben ihn.
Sie unterhielten sich noch ein wenig. Es waren traurige Gespräche, die alle auf die Ausweglosigkeit ihrer Situation hinausliefen. Dann schliefen sie ein. Nach sechs Stunden wurden sie von grellem Licht und einer groben Stimme geweckt. Sie schreckten hoch und sprangen auf. Durch das Loch in der Ecke ragten ein Kopf und eine Hand mit Laterne. „Aufstehn, aufstehn! Puh, da liegen…“ Es war Meftachudyn.
Die Blutsbrüder wurden hellwach und gähnten niedergeschlagen. „Hast du denn kein Mitleid?“ fragte Ljonka. „Mitleid haben, geht aber nicht. Viktor Nikolajewitsch sagen: Durchsuch ganzes Haus, wenn finden, dann rausholen.“ „Halunke!“ brummte Ljonka. „Und überhaupt, schlafen hier unmöglich.“
„Warum?“ fragte Sascha.
„Weil Tiktive kommen.“
„Wer?“ forschte Sascha erstaunt.
„Tiktive… mit Knüppel und Gewehr.“
„Er meint wahrscheinlich Detektive“, stellte Ljonka fest. „Er will uns angst machen.“ Er sah zu dem Wächter auf. „Nein, Meftachudyn, wir gehn nicht weg. Wir wissen nicht, wohin.“ Meftachudyn schnaufte, dann verschwanden der Kopf und die Hand mit der Laterne, und die Stiefel des Tataren trampelten die Treppe hinab.
Die Freunde legten sich wieder hin. Das Einschlafen fiel ihnen jetzt schwer. In der Kammer war es kalt geworden, und sie zitterten unter Saschas Mantel und auf den beiden nassen, zerfetzten Matratzen.
„Wir wollen Feuer machen“, schlug Ljonka vor.
„Nicht doch!“ widersprach Sascha erschrocken. „Hier ist lauter Stroh und so was. Das gibt 'nen Brand.“
„Unsinn.“
Ljonka kroch von den Matratzen herunter und schob das Werg von dem schmutzigen Steinfußboden. In den Kreis, der sich auf diese Weise gebildet hatte, legte er ein Häuflein Werg und riß ein Streichholz an. Aber das durchnäßte Werg wollte kein Feuer fangen.
„Hast du Papier?“
Aufstehn, aufstehn!
„Nein“, antwortete Sascha. „Nur Bücher, und um die ist es zu schade.“
Ljonka wühlte in seiner Hosentasche und zog zusammengefaltetes Papier hervor.
„Was ist das?“ erkundigte sich Sascha.
„Heinrich Heine“, sagte Ljonka kläglich und lächelte traurig in die Dunkelheit.
Er zerknüllte ein Blatt und zündete es an. Die Flamme leckte über das Papier, erlosch, rauchte und schlug dann wieder hoch. „Komm her“, sagte Ljonka.
Sascha rückte heran.
Sie hatten die Übersetzung von Heine fast ganz verbrannt, als sich auf der Treppe Schritte näherten. Ljonka erstickte das Feuer mit den bloßen Händen. Es erlosch sofort.
Wieder tauchte eine Hand mit Laterne in der Deckenöffnung auf, und diesmal folgten ihr zwei Köpfe.
„He, ihr Hühner! Kommt raus!“ Das war Alnikpops Stimme. Sascha und Ljonka preßten sich lautlos an die Wand. „Na, wird's bald!“
„Komm raus!“ flüsterte Ljonka.
Hintereinander kletterten sie durch das Loch ins Treppenhaus — verschlafen und schmutzig, mit nassem Werg und Stroh beklebt. Ohne ein Wort gingen sie die Treppe hinunter. Alnikpop und Meftachudyn brachten sie ans Tor. Alnikpop hatte die Hände fröstelnd in die Ärmel gesteckt.
„Nicht nett von Ihnen, Onkel Sascha“, sagte Sascha Pylnikow. „Was soll ich machen, Jungens! Viktor Nikolajewitsch hat es so angeordnet.“ Er machte ihnen die Pforte auf und fügte hinzu: „Alles Gute!“
Auf der Straße war es finster und kalt.
Die Laternen brannten nicht mehr, der Mond schien nicht, und die Sterne flimmerten nur verschwommen zwischen den Wolken. Langsam trotteten Sascha und Ljonka die dunkle, breite Allee hinunter, vorüber an einem hell erleuchteten Restaurant. „Halunken!“ brummte Sascha.
Das galt den NÖP-Leuten, die zu dieser späten Stunde noch zechten. Die Jungen bekamen allmählich Hunger. Auf dem Newski-Prospekt kauerten die Kutscher der Nachtdroschken frierend auf ihren Wagen.
„Komm wieder zurück“, sagte Ljonka.
„Hat das Sinn?“ wandte Sascha ein. „Sie lassen uns ja doch nicht schlafen.“
„Ach was — los, komm!“
Sie gingen zur Schkid zurück.
Der wachsame Meftachudyn hatte das Tor verschlossen. Sie mußten über das mit Stacheldraht umwickelte zerbrochene Gitter klettern. Unbemerkt kamen sie in ihren Verschlag unter der Treppe und schliefen ein.
Am nächsten Morgen erwachten sie aus alter Gewohnheit um acht Uhr.
Als sie auf den Hof kamen, klingelte es in der Schkid gerade zum Frühstück. Die verschleierte Sonne erwärmte die Erde. Auf dem Gras verdampfte der Tau.
Hinter dem Holzstoß kam Meftachudyn hervor. Er hatte eine Axt in der Hand, wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab, sah nach Osten und gähnte. Als er die Jungen erblickte, ging er zu ihnen hin.
„Na, doch hier geschlafen?“
„Nein“, widersprach Sascha erschrocken. „Nein, nicht hier, wir…“
Meftachudyn lachte.
„Ich wissen, ich selbst sehen, wie reingekommen.“ Er sah in die Luft und ergänzte: „Ich doch Mitleid. Ich — meine Pflicht getan.“
Ljonka klopfte dem Tataren auf die Schulter.
„Ich weiß.“ Als Meftachudyn weg war, schlug er vor: „Wir gehn jetzt in die Schkid.“
Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen in die Küche. Der Älteste und der Diensthabende gaben ihnen Tee und riefen Jankel und Japs.
„Na, wie steht's?“ fragte Japs teilnahmsvoll.
„Schlecht“, antwortete Ljonka. „Wir können nicht länger ohne Bleibe rumlaufen. Ist zu kalt.“
„Tja“, meinte Jankel nachdenklich. „Geht doch mal zu Vikniksor und jammert ihm was vor. Vielleicht erbarmt er sich.“
Die Blutsbrüder tranken ihren Tee aus und folgten dem Rat. „Herein!“ rief Vikniksor, als sie an seine Tür klopften.
Sie traten ein und blieben an der Tür stehen.
„Was wollt ihr?“
„Verzeihen Sie uns, Viktor Nikolajewitsch…“
„Nein… Schert euch aus der Schule, habe ich gesagt. Solche Schurken will ich hier nicht haben.“ Die Jungen wandten sich zum Gehen.
„Übrigens… wenn ihr die Fensterscheiben wiedereinsetzt, dann…“
„Dann?“
„Dann dürft ihr in einem Monat in die Schule zurückkommen.“ „Vielen Dank, Viktor Nikolajewitsch.“
Damit verließen sie das Zimmer. Sie wußten vor lauter Kummer nicht mehr, was sie machen sollten.