„Trinkt!“ schrie Kutscher. „Trinkt, Brüderchen!“
Er saß auf einem knorrigen Birkenklotz mit abgeschabter Rinde.
Zigeuner lag auf dem Fußboden wie Stenka Rasin, der am Ufer der breiten Wolga zecht. Ochse, Kaufmann, der Nackte, der Gewissenlose, Happen, Hühnchen waren dabei, und außerdem noch zwei Jungkommunarden, ja, zwei Jungkommunarden, die der Versuchung nicht hatten widerstehen können — Ljonka und Jankel. Sie feierten das „erfolgreich gedrehte Ding“.
Kutscher hatte den Kaffee für achthundert „Eier“ losgeschlagen. Achthundert Millionen Rubel![8] Das war damals eine erhebliche Summe, ganz besonders für dieSchkid mit ihren mageren Lebensmittelrationen, mit der Hirsegrütze und dem Seehundstran.
Das Geld war nicht gleichmäßig verteilt worden. Kutscher hatte dreihundert „Eier“ bekommen, Zigeuner zweihundert, der Nackte und Ochse je hundertfünfzig. Anläßlich ihres Erfolges veranstalteten sie jetzt ein nach Schkider Begriffen außergewöhnliches Gelage. Die Diebe waren nicht entdeckt worden. In der Schule erfuhr man überhaupt nichts von dem Diebstahl. Die Konsumangestellten vermuteten, Einbrecher von außerhalb hätten den Kaffee gestohlen. Sie kamen nicht auf den Gedanken, sich einmal bei ihren Nachbarn umzusehen. Und die Bande, die plötzlich soviel Geld besaß und nicht wußte, wohin damit, praßte… „Sauft!“
Bierflaschen auf dem Fußboden, eine Schnapspulle auf dem Brettertisch, daneben Wurst, Konfekt, Keks, Schokolade… „Sauft!“
Ein Gelage in dem halbzerstörten Seitenflügel, im Holzschuppen… Viele tranken zum erstenmal Alkohol.
Sie erbrachen sich auf die Diele, neben die Schokolade und die Kekse. „Sing, mein Liebling!“ Kutscher fiel dem Gewissenlosen um den Hals. „Sing, verdammt, ich bitte dichl Ich will ein Lied!“ Und der Gewissenlose sang mit seiner weichen, schönen Stimme:
Jankel und Ljonka hockten in der Ecke, still, ohne sich zu rühren. Der Rausch drang ihnen in jede Pore ihres Körpers und ließ ihr Herz schneller klopfen. Aber — hämmerte es nur vom Rausch? Nicht auch vor Scham und Beklommenheit? „Jungkommunarden sind wir… und haben uns verkauft… Ach, verdammt!“
Doch die Hemmungen fielen, als sie genug Branntwein im Leibe hatten. Die Scham verging, der Rausch blieb. Sie umschlangen sich und sangen — Ljonka in krampfigem Baß, Jankel mit seinem natürlichen Tenor:
Kaufmann wälzte sich sternhagelvoll auf dem Fußboden, packte den Nackten Herrn und kitzelte ihn.
„Nackter, gib mir ein 'Eierchen'!“
Der Nackte drückte ihm einen Millionenschein in die Hand. Wenn man hundert Stück davon in der Tasche hat, ist man nicht geizig.
Die letzten Glasscherben in den Fensterrahmen klirrten beim Tanz; der Bier floß von dem Tisch aus Holzscheiten und vermischte sich mit dem Erbrochenen auf dem Fußboden.
Der Gewissenlose sang, Kutscher, der Künstlersohn, fiel ihm um den Hals und lachte und weinte.
„Gewissenloser, sing! Sing, du Tranfunzel! Du platzt vor Talent… Hoho! Ha-a-a!“ Dann umarmte er Zigeuner, küßte ihn und stammelte: „Zigeunerfresse, Freundchen!.. Meine Mutter und mein Vater waren Halunken, du bist mein einziger Freund. Wenn ich noch tiefer sinke, bin ich in der Hölle…“ Sie tranken, sangen, tanzten.
Dann ging die ganze abgerissene, betrunkene Bande barfuß spazieren. Lachend, schreiend, fluchend taumelten sie die Straße hinunter. Der Gewissenlose trottete mit gesenktem Kopf dahin und sang auf Kutschers Bitte:
An der Kalinkin-Brücke stand ein Auto, ein klappriger, hochbeiniger Ford, der aussah wie ein Bürgersöhnchen mit kurzen Hosen und nackten Knien.
„Ein Motor!“ grölte Kutscher. „Ein Motor! In meinem ganzen Leben bin ich noch nicht mit'm Motor gefahren!“ Er schwankte auf den Chauffeur zu. „Wieviel kostet es bis zum Newski?“ Der Chauffeur — er mochte Lette oder Deutscher sein — sah die barfüßigen, struppigen Jungen erstaunt und entsetzt an. „Verschwindet, ihr Tagediebe!“ schrie er zurück. „Wieviel?“ brüllte Kutscher wütend und riß einen Packen Geldscheine aus der Tasche.
Der Chauffeur sah sich hastig nach allen Seiten um. Dann machte er die Wagentür auf. „Steigt ein! Hundert 'Eier'.“
„Rein, Leute!“ grölte Kutscher unbedenklich.
Barfuß kletterten sie in den Wagen und ließen sich auf den Ledersitzen nieder. Die kurze Fahrt ging an der Fontanka entlang. Auf dem Newski-Prospekt machte der Chauffeur die Tür auf. „Raus!“
Die Jungen kletterten aus dem Auto und schlenderten über denNewski. Dort aßen sie Eis mit fade schmeckenden Waffeln und Äpfel, rauchten teure „Zephir“-Zigaretten und pöbelten die Passanten an. Anschließend ging die Horde ins Kino. Ein Gruselfilm wurde gespielt — „Die geheimnisvolle Hand“ oder „Der blutige Ring“. Die Strolche starrten auf die Leinwand, knackten Sonnenblumenkerne, lutschten Bonbons und rülpsten nach dem vielen Branntwein und Bier.
Erst nach Mitternacht kehrten sie in die Schule zurück. Der verschlafene Meftachudyn öffnete ihnen das Tor. „Banditen! Wir euch Kopf abreißen! Wartet, wenn Viktor Nikolajewitsch zurück sein!“ schimpfte er.
Und der Erzieher vom Nachtdienst schrieb in die „Chronik“: „Starolinski, Offenbach, Koslow, Bessowestin, Pantelejew, Tschornych und Ustinowitsch kamen spät in der Nacht zurück. Die Zöglinge Dolgoruki und Gromonoszew erschienen überhaupt nicht.“ Kutscher und Zigeuner übernachteten nämlich in einer verrufenen Straße…
Wieviel kostet es bis zum Newski?
Mit gesenktem Kopf standen Jankel und Ljonka da. Sie konnten den anderen nicht in die Augen sehen. Die Mitglieder des ZK saßen gelassen am Tisch und durchbohrten die Schuldigen mit ihren Blicken. Der Fall wurde diskutiert:
„Sie haben von allein gestanden. Man muß Gnade walten lassen.“
„Tatsache. Wir geben ihnen eine Rüge, aber nicht öffentlich.“ Dann wurden die beiden aufgefordert: „Seht uns in die Augen.“ Jankel und Ljonka blickten zu Japs auf.
„Japs, Ehrenwort… Wir waren Schweine!“
Kutscher zerrann das Geld zwischen den Fingern. Es war nur scheinbar schwierig, dreihundert Millionen durchzubringen — in Wirklichkeit hatte er an einem Tag schon die Hälfte verschleudert, und wenige Tage später saß er — Peng! — auf-dem trockenen. Und sich nach Schokolade, Kino, westfälischem Schinken und Autofahrten nun mit Machorka und einer Pfundration Brot zu begnügen, war nicht gerade einfach. Deshalb baldowerte Kutscher eine neue Sache aus — und setzte sie in die Tat um.
In einer dunklen Nacht machte dieselbe Bande einen Einbruch in das Konsumlager auf dem Hof. Die Strolche drückten die Türfüllung ein, kletterten hindurch, holten eine Kiste „Osman“-Zigaretten heraus und setzten die Türfüllung wieder ein. Die Prasserei begann von neuem.
Überall — in den Korridoren, den Klassen und Schlafräumen der Schule — lagen Zigarettenstummel mit Goldmundstück. Sämtliche Schkider rauchten „Osman“-Zigaretten, denn wenn Kutscher so viel Geld besaß, war er großzügig.
Kostalmed und Alnikpop, die besten Erzieher, befanden sich gerade in Urlaub. Elanljum verlor vollständig die Fassung, die Leitung glitt ihr aus den Händen. Sie brachte es nicht mehr fertig, in diesem Sodom und Gomorrha Disziplin zu halten… Die Diebstähle nahmen unaufhaltsam zu. Handtücher, Decken, Stiefel verschwanden.
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Der sogenannte Papierrubel stand damals so niedrig im Kurs, daß er in Millionen-Scheinen ausgegeben wurde. Offizielle Währungseinheit war der Tscherwonez (Mehrzahclass="underline" Tscherwonzen). 1 Tscherwonez = 10 Goldrubel. Ein Goldrubel war in der NÖP-Zeit etwa 8–15 Millionen Papierrubel wert.