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Der „Junkom“ versuchte, sich zur Wehr zu setzen, doch schon beim ersten Versuch verprügelten Kutschers Kumpane den kleinen, schwarzen Kostja Finkelstein; Ljonka und Jankel bekamen ebenfalls eine Tracht Prügel. Sie sollten es nicht wagen, die Sache mit dem Kaffee und der „Geheimnisvollen Hand“ zu erzählen. Eines Tages kam der Nackte zu Ljonka. Die beiden Jungen hatten sich angefreundet; der Nackte liebte Ljonka und war aufrichtig zu ihm. „Ich hab' Angst, Ljonka“, sagte er. „Unsere Bande plant einen Einbruch in die Fabrik 'Skorochod'. Dabei muß der Wächter beseitigt werden. Und ich soll ihn umbringen, bei Gott!“ Der ehemalige Gymnasiast war blaß vor Erregung. „Ja, ich! Und eines Tages kommt dann Vikniksor in den Eßraum und fragt: 'Wer hat ihn ermordet?' Das würde ich nicht aushalten. Einen hysterischen Anfall würde ich kriegen und schreien.“ Der Nackte verzog das Gesicht wie ein Kätzchen und brach in bittere Tränen aus.

„Reg dich nicht auf“, tröstete Ljonka. „Du hast es ja noch nicht getan. Es bleibt dir bestimmt erspart.“

Und eines Tages sagte er: „Tritt doch in den 'Junkom' ein.“ Der Nackte traute seinen Ohren nicht. „Werden die mich denn aufnehmen?“

„Wir wollen es versuchen.“

Auf die nächste Versammlung des „Junkom“ nahm Ljonka den Nackten mit.

„Hier ist Starolinski“, sagte er. „Er will in den, Junkom' eintreten. Er hat zwar allerhand auf dem Kerbholz, aber er bereut es. Außerdem sind wir kein Komsomol, sondern eine Organisation für Schwererziehbare mit entsprechend geringeren Anforderungen.“ Der Nackte wurde als Kandidat aufgenommen. Er bekam eine entsprechend lange Probezeit und wurde verpflichtet, mit Kutscher zu brechen.

Kutscher focht das wenig an. Er „drehte“ ein „Ding“ nach dem anderen. Als aus dem Konsum nichts mehr zu holen war, stahl er die Glasscheiben aus einer Apotheke und brach die eingebauten Bleirohre aus den Toiletten der Schule. Eines Nachts verschwanden in der Schkid sämtliche Glühbirnen.

Die ganze Schkid wurde von der Seuche angesteckt. Der Pokrowsker Trödelmarkt und die Schwarzhändlerinnen zitterten vor den frechen Raubüberfällen der Strolche. In jener Zeit sang das Gesindel am Obwodny-Kanal folgendes Lied:

Von der Schkid, da kommt er her, klaut uns alle Läden leer. Jedes Marktweib flucht wie toll, daß die Schkid der Teufel hol! Nur Banditen gibt es da! Lamza, driza a-za-za!

In diesen Tagen schien die Schule, die doch schon ein so gewaltiges Stück Weges hinter sich gebracht hatte, wieder in ihr Anfangsstadium zurückzufallen.

DIE ERSTE ENTLASSUNG

In einer stürmischen Nacht * Wieder in Petrograd * Elanljum erstattet Bericht * Unter der abgeschirmten Lampe * Das Scherbengericht * Freudlose Entlassung * Und wieder rattern die Räder.

Wie ein Wolf heulte der nächtliche Sturm hinter dem Fenster. Die Räder ratterten über die Schienenverbände, schwach flackerte die Lampe an der Tür. Im Nebenabteil sang jemand unaufhörlich:

Stürme heulten ohn' Erbarmen durch die Winternacht, als die Mutter — weh mir Armen — mich zur Welt gebracht…

Pausenlos, in qualvoller Eintönigkeit, erklang das Lied, und erst tief in der Nacht, als der Zug in Twer hielt, weil die Lokomotive Wasser nehmen mußte, verstummte der Sänger — er war wohl eingeschlafen. Draußen heulte noch immer der Sturm, und im Abteil schnarchten ein Student mit Wickelgamaschen, eine Dame mit verblichenem Trauerschleier und ein Tatare aus Ufa mit seiner Frau. Sie schnarchten alle, und der Tatare pfiff außerdem durch die Nase und seufzte im Traum. Vikniksor konnte nicht schlafen. Tagsüber hatte er aus Untätigkeit ein Nickerchen gemacht, jetzt saß er unbeweglich in der dämmrigen Ecke, gegen den Lichtschein geschützt, und dachte nach. Seine zusammenhanglosen Gedanken flogen dorthin, wohin die Räder rollten — nach Petrograd, in die Schkid.

In den vier Wochen, die der Lehrgang gedauert hatte, war Vikniksor die Schkid noch mehr ans Herz gewachsen. Er wußte jetzt, daß die Schkid sein Kind war, nach dem er sich sehnte, sein Kind, das er hegen und pflegen mußte. Wie es dort wohl aussah. War alles in Ordnung, war etwas passiert? Vikniksor wuß te, daß er auf alles gef aß t sein muß te.

Die Schkid war kein normales Kind, auf das man sich verlassen konnte, gerade jetzt nicht, wo kurz vor seiner Abreise viele neue Schwererziehbare, die noch niemals unter pädagogischem Einfluß gestanden hatten, in die Schule eingeliefert worden waren. Wie sah es dort aus?

Endlich schlief Vikniksor über seinen Gedanken ein. Er träumte vom Minin-Denkmal auf dem Roten Platz, von der „Chronik“, von Elanljum, von den Jungen, die gerade im Eßraum bei Tisch saßen, von dem Schild der Teefabrik in der Mjasnizkaja-Straße, von dem kahlgeschorenen Referenten mit dem herabhängenden Schnurrbart, der auf dem Kongreß für Sozialerziehung gesprochen hatte, und wieder von der Schkid, von Japs, der das Sonnenblumenwappen in der Hand hielt, und vom „Junkom“…

Dann geriet alles durcheinander. Das Schild der Teefabrik kam in die „Chronik“, der kahlgeschorene Referent schwenkte die „Chronik“, der steinerne Minin trat in den Eßraum… Vikniksor schlief fest. Der Student weckte ihn.

„Stehen Sie auf, Genösse, wir sind in Petrograd.“ Widerwillig öffnete Vikniksor die Augen, streckte gähnend die Beine aus und griff nach seinem Mantel, der zu Boden gefallen war. Aber als er auf den Bahnhofsplatz trat, wurde ihm das Herz warm. Alles kam ihm vertraut vor — die Petrograder Droschkenkutscher, die Zeitungshändler und Gepäckträger. Selbst den Zaren Alexander III. mit dem „Gedenkkranz der Ruhmlosigkeit“ fand er plötzlich schön. In Petrograd war es Morgen. Die Hitze hatte noch nicht eingesetzt. Vikniksor wollte mit der Straßenbahn fahren. Doch als er eine Weile vergeblich an der Haltestelle gewartet hatte, beschloß er, zu Fuß zu gehen. Er zog seinen Mantel aus und schritt die Ligowka hinunter, am Obwodny-Kanal entlang auf die Schule zu. Immer quälender wurde die Frage: Wie sieht es dort aus? Neben dem Elektrizitätswerk am Obwodny-Kanal schleppten Lastträger Kohlensäcke über die Lauf gänge in eine Schute. Vikniksor blieb stehen und sah zu, wie die Kohle gleich schwarzen Diamanten funkelnd in den Eisenbauch der Schute fiel. Er blickte ins Wasser, auf dem ölflecke schillerten. Dann dachte er wieder: Wie sieht es dort aus? und ging hastig weiter.

Inzwischen war es heiß geworden. Die goldene Sonnenscheibe stand jetzt schon über dem Jungfrauen-Kloster.

Elanljum saß, Vikniksor stand vor ihr. Er stützte sich mit dem Ellenbogen auf eine Nußbaumkommode. Das Lächeln war aus seinen Augen verschwunden.

„Ach, Viktor, ich bin vollständig erschöpft, ich hab' nichts ausrichten können, ich weiß nicht mehr aus noch ein.“ Vikniksor lehnte an der Kommode und lauschte wortlos Elanljums Bericht.

„Dieser Dolgoruki… er ist unverbesserlich, ein rückfälliger Verbrecher, ein entsetzlicher Mensch…“

Vikniksor schwieg. Ein verlorenes, kummervolles, fast verzweifeltes Lächeln stand in seinen Augen.

Dann saß er lange an dem schweren Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, hatte die Lampe abgeschirmt und dachte nach. Ist Dolgoruki wirklich ein hoffnungsloser Fall? Ein fünfzehnjähriger Junge? Unmöglich. Da wurde irgendein Mittel vergessen, nicht alles versucht…

Er zog die Schublade auf und nahm eine braune Akte heraus. Sie trug die Aufschrift: „Charakteristiken B-K“.

Vikniksor schlug die Akte auf und holte eine Charakteristik heraus. „Siwer Dolgoruki… Dieb. Stahl im Heim für Künstlerkinder, bestahl die eigenen Kameraden… Kinderheim Nr. 18… Stahl… Gymnasium von Zarskoje Selo. Stahl, wurde aus der Schule verwiesen… lernte schlecht… Institut für schwererziehbare Minderjährige… Diebstahl, Flucht… Kloster…“