Die Jungen glitten dahin, bohnerten den Fußboden mit den Sohlen ihrer Anstaltsstiefel und wirbelten ganze Staubwolken auf. Zwei Uhr nachts war schon vorüber, als Vikniksor schließlich den Klavierdeckel abschloß.
Die Gäste verabschiedeten sich, die Kleinen gingen schlafen, und die Großen brachten die Mädchen aus dem Kinderheim nach Hause, nachdem sie sich von Vikniksor die Erlaubnis geholt hatten. Es war ein vergnügter, lärmender Zug.
Jankel und Ljonka gingen mit. Vikniksor hatte ihnen erlaubt, in Urlaub zu gehen, und sie waren überglücklich. Am Tor verabschiedeten sie sich von den übrigen und schlenderten langsam die Allee hinunter. Unter ihren Füßen knirschte Eis, und ihre Absätze knallten über die rauhen Steinplatten des Bürgersteiges. Stillund leer waren die Straßen um diese nächtliche Stunde. Die Ruhe tat den Blutsbrüdern wohl.
Alles war jetzt bei ihnen in bester Ordnung, und vor allem — sie besaßen zwei Tscherwonzen, mit denen sie zu jeder Stunde nach Odessa oder Baku zum Film fahren konnten.
Die gefrorenen Pfützen krachten unter ihren Füßen. In der Ferne brannten noch die letzten Überreste der Festtagsbeleuchtung: kleine fünfeckige Sterne mit Hammer und Sichel.
Still war es ringsumher…
DIE KÜKEN WERDEN FLÜGGE
Aus dem Urlaub zurück * Jankel in Nöten * Wir fahren! * Gespräch in Vikniksors Arbeitszimmer * Letztes Lebewohl * Die Küken fliegen aus.
Jankel ging nicht — er tanzte und pfiff sich den Takt dazu. Ihm war besonders leicht und froh zumute. Sogar die heutige Mathematikstunde schreckte ihn nicht, obgleich er seine Aufgaben nicht gelernt hatte. Der Impuls von Lebensfreude, den ihm der Festtag gegeben hatte, war noch nicht verflogen. Schön war der Tag gewesen, auch mit der Aufführung hatte alles geklappt, und der Urlaub hatte großen Spaß gemacht.
Die Absätze klapperten zu der Melodie über das Pflaster, während Jankel gedankenversunken durch die frostigen, morgendlich verschlafenen Straßen marschierte. Der Feiertag war zu Ende. Über das Pflaster zogen sich schon die frischen Schrammen von den schweren Rädern der Lastwagen, und die Menschen liefen wieder mit nervösen Alltagsgesichtern auf dem Bürgersteig. Jankel versuchte, sich ebenfalls auf den Alltag umzustellen und an den Unterricht zu denken, aber daraus wurde nichts. Seine Lippen summten weiter:
Da war die Schkid. Munter kletterte er die Treppe hinauf und zog die Klingel.
„Aha, Jankel! Na, Mann, du sitzt schön in der Tinte!“
Jankels Lied brach ab. Ein bitterer Kloß stieg ihm beim Anblick des erschrockenen Gesichtes, das der Diensthabende machte, in die Kehle. „Was ist los?“
„Toller Skandal!“
„Was denn für ein Skandal?“
Doch als der aufgeregte Jankel weiterfragen wollte, war der Diensthabende schon in der Küche verschwunden.
Jankel lief zu seiner Klasse, riß die Tür auf und prallte zurück, betäubt von dem Krach. Die Klasse tobte vor Zorn und Aufregung. Als die Jungen Jankel erblickten, stürzten sie zu ihm hin. „Skandal!“
„Unerhört!“
„Die Decken sind geklaut“
„Vikniksor ist außer sich.“
„Er erwartet dich.“ „Du sollst das verantworten.“
Noch immer verständnislos, ging Jankel zu seiner Bank und setzte sich. Erst jetzt erfuhr er alles der Reihe nach. Als er in Urlaub ging, war die Bühne noch nicht aufgeräumt, niemand gab der Beschließerin die Decken zurück, und sie blieben so lange hängen, bis Vikniksor am nächsten Abend anordnete, sie abzunehmen und in die Kleiderkammer zu bringen. Es waren nicht mehr zehn, sondern nur noch acht. Zwei waren spurlos verschwunden.
Diese Neuigkeit schmetterte Jankel zu Boden. Seine Fröhlichkeit war wie weggeblasen, seine Lippen sangen nicht mehr das „Küken“. Er sah sich um, und als er Ljonka erblickte, fragte er hilflos: „Was nun?“
Ljonka antwortete nicht.
Plötzlich rannten die Jungen auf ihre Plätze. Es wurde totenstill. Vikniksor stand in der Klasse. Er machte ein finsteres Gesicht und biß sich nervös auf die Lippen. Als er Jankel sah, ging er zu ihm hin. „Zwei Decken sind abhanden gekommen“, sagte er gedehnt. „Du bist dafür verantwortlich. Wenn die Decken bis zum Abend nicht gefunden sind, müssen deine Eltern oder du mir den Wert ersetzen.“
„Aber, Viktor Nik…“
„Kein Aber. Außerdem kommst du wegen Schlamperei in die fünfte Gruppe.“
In der tiefen Stille hörte man, wie zornig Vikniksors Absätze hinter der Tür davonstampften.
„Da hast du dein gebratenes Küken“, brummte Japs. Niemand reagierte auf seinen Scherz. Alle schwiegen. Jankel saß gebückt da, den Kopf in die Hände gestützt. Seine glühende Stirn berührte die Bank. Sein Gesicht war nicht zu sehen.
Jankel und Ljonka standen in der Toilette. Jankel sog an seiner Zigarette. „Mach, was du willst, Ljonka, aber ich geh weg“, sagte er leidenschaftlich „Eine Woche bleibe ich bei meiner Mutter, dann packe ich meinen Kram zusammen, und ab nach Süden. Ich kann nicht länger warten. Und ich will auch nicht in der fünften Gruppe sitzen — ich bin kein kleines Kind mehr.“ „Und Vikniksor? Meinst du, er läßt dich fort?“ fragte Ljonka. „Vikniksor? Ich geh zu ihm und rede mit ihm. Er wird es verstehen. Es handelt sich jetzt um dich. Sag mir offen, willst du bleiben oder auch… wie wir es verabredet haben?“ Ljonka überlegte einen Augenblick.
Erregt und fragend hingen Jankels Augen an dem breitknochigen Gesicht des Freundes. „Na?“
„Was heißt 'na'? Natürlich fahren wir zusammen!“ Jankel entrang sich ein Seufzer der Erleichterung. „Gib mir die Hand drauf!“
„Auf zu Vikniksor!“ Ljonka lachte auf. „Ja, los!“
Sie gingen dahin, ohne den üblichen Lärm zu hören, ohne das Gerenne und Gewimmel der Kleinen oder sonst etwas zu sehen. Vor der Tür von Vikniksors Wohnung machten sie halt, um Atem zu schöpfen. Unwillkürlich sahen sie zu der kahlen Bühne hinüber, und Jankel knirschte mit den Zähnen.
„Diese Strolche! Das müssen die Neuen gewesen sein. Unsere Jungens machen das nicht mehr.“
„Na gut, gehn wir jetzt.“
Sie traten in das Arbeitszimmer, dessen geringste Einzelheiten ihnen während ihres langen Heimaufenthaltes vertraut geworden waren, und blieben vor dem Direktor stehen. Vikniksor saß am Schreibtisch, einen Pappschirm über den Augen, und las. Er schob den Schirm hoch und sah die Jungen an. „Was wollt ihr?“
Jankel trat vor und begann mit stotternder, aber entschlossener Stimme zu reden.
„Viktor Nikolajewitsch, wir wollen die Schule verlassen. Ja, wir wollen sie verlassen, denn wir sind jetzt erwachsen.“
Vikniksor nahm den Pappschirm ab und musterte die Jungen mit kaum merklichem Spott von Kopf bis Fuß, als wollte er sich vergewissern, ob sie tatsächlich herangewachsen waren. Äußerlich schienen die Jungen nicht verändert zu sein, sogar ihre Gesichter waren etwas aufgeregt wie immer, wenn sie mit einem Erzieher sprachen, aber aus der Stimme von Grischka Tschornych, Zögling der vierten Abteilung, klangen ganz neue, ungewohnte Töne.