Выбрать главу

„Viktor Nikolajewitsch“, fuhr Grischka Tschornych mutig fort, „bei Gott, wir sind erwachsen. Als ich in die Schule kam, war ich dreizehn Jahre alt. Vieles verstand ich nicht. Zehn Stunden Unterricht am Tag hielt ich für eine Strafe. Ich glaubte damals, Unterricht und Karzer wären ein und dasselbe. Und vor dem Karzer hatte ich Angst. Jetzt bin ich sechzehn und kann mich nicht mehr mit dem engen Rahmen der Schulordnung abfinden. Ich kann es wirklich nicht mehr. Trotz aller Achtung vor dem Karzer, der fünften Gruppe und Ihnen, Viktor Nikolajewitsch…“

„Ja, auch vor Ihnen, Viktor Nikolajewitsch“, bestätigte Ljonka Pantelejew. Vikniksor sah Ljonka an, und ihm fiel wahrscheinlich ein, daß er vor zweieinhalb Jahren in demselben Zimmer, an demselben Tisch schon einmal mit dem Jungen gesprochen hatte.

„…und vor Ella Andrejewna“, zählte Jankel weifer auf, „vor Onkel Sascha, der 'Chronik' und den Geschichtsstunden. Wir sind der Dostojewski-Schule sehr dankbar. Sie hat uns vieles gelehrt. Doch jetzt sind wir erwachsen. Wir wollen arbeiten. Wir spüren unsere Kraft…“ Jankel reckte sich und wölbte unwillkürlich die Brust. Ljonka ballte die Fäuste und bog den Arm, als wollte er Vikniksor seine Muskeln zeigen.

In stummer Erwartung sahen sie den Direktor an. Nachdenklich saß Vikniksor da, ein kaum merkliches, verständnisvolles Lächeln auf den Lippen. Dann stand er auf, ging durch den Raum und maß die beiden Jungen noch einmal mit einem eindringlichen Blick.

„Ihr habt recht“, sagte er dann.

Jankel und Ljonka fuhren vor Erleichterung zusammen. „Ihr habt recht“, wiederholte Vikniksor. „Ihr habt jetzt das ausgesprochen, was ich euch in einem halben Jahr sagen wollte. Ich sehe, daß ich mich etwas in der Zeit geirrt habe. Ihr seid ein halbes Jahr früher reif geworden. Die Schule hat euch als kleine Diebe, als Strolche aufgenommen. Jetzt seid ihr aber herangewachsen, und ich spüre, daß die Zeit, die ihr in der Schule verbracht habt, für euch nicht umsonst war. Ich habe schon längst erkannt, daß ihr durch die Umerziehung stark genug geworden seid, um ins Leben zu treten. Ich weiß, ihr werdet künftig keine Parasiten, kein Abschaum der Gesellschaft mehr sein, und deshalb sage ich euch ganz offen: Ich halte euch nicht zurück. In einem halben Jahr wollte ich die erste offizielle Entlassung vornehmen und allen Entlassenen Arbeit vermitteln, aber ihr wollt nicht so lange warten. Nun — da kann ich euch nur gute Reise wünschen. Tut ungehindert, was ihr für richtig haltet… Wenn es euch aber schwerfallen sollte, eine Beschäftigung zu finden, dann kommt zu mir. Ich will versuchen, euch dabei zu helfen. Ihr seid es wert. Und die amerikanischen Decken wollen wir vergessen. Die Jungkommunarden sind zu mir gekommen, haben sich für euch verbürgt und versprochen, den Dieb ausfindig zu machen.“

Vom Weggang der Blutsbrüder erfuhren die Schkider erst zwei Tage später, als Jankel und Ljonka mit ihren Entlassungssachen — der „Mitgift“, wie es die Schkider nannten — von der Kleiderkammer der Abteilung Volksbildung zurückkamen. Sie hatten neue Mäntel, Mützen, Stiefel und Anzüge erhalten, waren dann in der Kanzlei gewesen, um ihre Papiere abzuholen, und kamen nun zu den Kameraden, um sich zu verabschieden.

Alnikpop gab gerade Geschichtsunterricht.

Mit erheuchelter Strenge schrie er wie gewöhnlich auf die Jungen ein, während er das Geschichtspensum wiederholte und dabei das wirtschaftliche Moment herausarbeitete. Die Blutsbrüder blieben an der Tür stehen. Dann ging Jankel zu Alnikpop hin.

„Auf Wiedersehen, Onkel Sascha“, sagte er leise. „Wir gehen fort. Vielleicht treffen wir uns einmal wieder…“

„Was denn sonst, Kinder!“ Alnikpop erhob sich. „Natürlich sehen wir uns wieder. Für euch ist es wirklich Zeit, das Leben zu beginnen. Was da für Hühner herangewachsen sind!“ Lächelnd reichte er den Blutsbrüdern die Hand. „Ich wünsche euch Erfolg. Euer Weg möge geradlinig und gut sein!“

„Vielen Dank, Onkel Sascha.“

Der Unterricht war gesprengt, aber Alnikpop schalt nicht, als die ganze Klasse aufstand, um die Kameraden zur Tür zu bringen. Den Zurückbleibenden fiel der Abschied genauso schwer wie den Scheidenden. Sie hatten doch fast drei Jahre unter einem Dach verbracht, hatten zusammen randaliert und gelernt. Und selbst irgendwelche Streitereien wurden plötzlich zu einer angenehmen Erinnerung. An der Haustür blieben sie stehen.

„Na, dann auf Wiedersehen“, brummte Japs und schlug den Blutsbrüdern auf die Schulter. „Verduftet!“ Seine Nasenspitze rötete sich. „Haut ab, ihr Teufel!“

„Alles Gute, Jungens!“

„Denkt mal an die Schkid!“

„Besucht uns wieder. Vergeßt eure Kameraden nicht.“

„Ihr dürft uns auch nicht vergessen!“ Hooliganien drängte sich in einem wirren Haufen um die Scheidenden.

Jeder wollte ihnen noch etwas sagen, jeder versuchte, seine Freundschaft irgendwie auszudrücken.

Der Dienslhabende kam, steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnete die Tür.

„Na!“ Jankel griff nach der Klinke. „Nun behaltet uns in gutem Angedenken, Leute!“

„Keine Sorge, das tun wir.“

„Lebt wohl, Jungkommunarden!“ Ljonka lächelte über das breitknochige Gesicht. „Lebt wohl und vergeßt nicht, die Deckenklauer zu suchen!“

„Die finden wir schon!“ riefen ihm viele Stimmen nach. „Keine Bange, die kriegen wir!“

Die Blutsbrüder gingen hinaus. Hinter ihnen klappte die Haustür zu, der Diensthabende klirrte mit dem Schlüsselbund, und die Sicherheitskette schwang dreimal rasselnd hin und her. „Weg sind sie!“ sagte Japs vor sich hin. Ihm fiel Zigeuner ein, der vor nicht allzulanger Zeit ebenfalls fortgegangen war; er dachte an Kutscher und an den Gewissenlosen und zog dann die Schlußfolgerung: „Sie sind weg, und bald gehe ich auch.“ Dann sah er dem Propheten in das zerfurchte Gesicht. „Traurig ist es trotzdem, Onkel Sascha.“ Alnikpops Kneifer blitzte auf. Er überlegte einen Augenblick. „Ja, natürlich ist es traurig“, meinte er dann leise. „Aber das macht nichts, ihr werdet euch wiedersehen. So muß es sein. Sie sind ins Leben getreten.“

DIE LETZTEN DER MOHIKANER

Marschierende Tage * Drei Fabriklehrlinge * Der Frühling kommt * Dse geht ab Kaufmann im Miliiärmantel * Ein Brief von Zigeuner * Die Tournee der Blutsbrüder * Ein neues ZK und Junge Pioniere * Noch zwei * Der Letzte der Mohikaner * Neues Rohmaterial.

Liefen die Tage? Nein. Tage können laufen, wenn es sein muß, aber diesmal schritten sie in beherrschtem Marschtritt dahin, ohne einander zu überholen — eine gleichmäßige lange Reihe. Wie im vorigen Jahr, wie vor zwei Jahren kam der Dezember. Die Fenster überzogen sich mit Eisblumen, in den Klassen und Schlafräumen wurde geheizt, und es gab jeden Tag zehn Unterrichtsstunden. Dann stand der Januar vor der Tür. In der Silvesternacht tranken die Schkider den traditionellen Moosbeerwein als Champagnerersatz, aßen Apfelstrudel und brachten Trinksprüche aus. Am ersten Neujahrstag fand die Prüfung statt. Wie im vergangenen Jahr kamen Lilina und andere Gäste aus der Abteilung Volksbildung, von der Sozialfürsorge und vom Hafen, hielten Reden und vermerkten die Erfolge, die die Schule im letzten Jahr erzielt hatte. In der vierten Abteilung hatten die Schkider, die inzwischen zu jungen Männern herangewachsen waren, die letzte Klasse der Einheitsschule durchlaufen und machten sich zur Entlassung fertig. Drei gingen im Januar ab — Spatz, Tichikow und Brotkanten. Da sie keine besondere Begabung oder Neigung zu geistiger Arbeit zeigten, brachte Vikniksor sie als Lehrlinge in einer Petrograder Druckerei unter. Anfänglich wohnten sie noch in der Schkid, dann siedelten sie in ein Gemeinschaftsheim über. Im Februar verließ niemand die Schule. Im März auch nicht. Dann kam der April. In den Alleen platzten die Knospen, die Pappeln und Weiden begannen zu duften, und der Schnee, der noch auf den Straßen lag, sah schmutziggrau aus. Mitte April verlor die vierte Abteilung einen weiteren Hooliganier — Dse. Ohne das Abschlußexamen und die Entlassungsfeier abzuwarten, ging er zu seiner Mutter, um die Familie zu unterstützen. Vikniksor entließ ihn, weil er erkannt hatte, daß sich der Junge gebessert hatte, daß er nun zu leben und zu arbeiten verstand und der Gesellschaft aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Schaden mehr zufügen würde.