So zerstreute sich die vierte Abteilung.
EPILOG
Das weitere Schicksal der Helden dieses Buches.
Fast drei Jahre sind vergangen, seitdem wir die Schkid verlassen haben.
Vor kurzem besuchten wir, die Verfasser — Jankel und Ljonka —, die Abendveranstaltung eines Fabrikklubs. Ein Gegenwartsstück wurde gespielt. Nach dem letzten Akt — die Zuschauer wollten gerade fortgehenkam ein kleiner Mann mit zurückgekämmtem Haar auf die Bühne. Er trug eine schwarze Arbeiterjacke mit einem roten Abzeichen. „Genossen!“ sagte er. „Ich bitte Sie, sitzen zu bleiben, und schlage vor, über das Stück zu diskutieren.“
Anfangs hatten wir nicht weiter auf den Mann in der schwarzen Jacke geachtet. Als wir aber nun seine Stimme hörten und ihn genauer ansahen, erkannten wir Japs. Nach der Diskussion gingen wir hinter die Kulissen und machten ihn ausfindig. Er war in den vergangenen drei Jahren kaum einen halben Zoll gewachsen. Aber er sah jetzt männlicher aus.
„Japs!“ riefen wir ihn an. „Was machst du hier?“ Er freute sich sichtlich, uns zu sehen, antwortete aber nicht gleich, sondern schnupfte bloß auf und klopfte uns umständlich auf die Schulter.
„Ich spiele Regieassistent“, erklärte er, als er die Sprache wiedergefunden hatte. „Ich habe das Institut für Dramatik besucht. Dies ist mein Praktikum.“
Außerdem ist Japs Kulturfunktionär und Klubleiter in einer Leningrader Milizabteilung.
Er berichtete uns von Sascha Pylnikow und Kostja Finkelstein. Sascha, der früher die Propheten und alles, was mit ihnen zusammenhing, haßte, ist jetzt beinahe selbst ein Prophet. Er macht gerade sein Abschlußexamen am Pädagogischen Institut und arbeitet bereits praktisch an einer Schule.
Der Lyriker Kostja Finkelstein — Falke — besucht das Institut für Kunstgeschichte.
Kaufmann trafen wir auf der Straße. Er stürzte auf uns zu — reckenhaft, so männlich, daß wir ihn kaum wiedererkannten. Er trug einen langen grauen Mantel, einen neuen blauen Helm und Stiefel mit Sporen. Auf dem linken Ärmel hatte er Rangabzeichen. Er ist bereits Roter Kommissar, Offizier der Roten Armee.
Auch Spatz trafen wir auf der Straße. Mit kleinen Spatzenschritten trippelte er über das Pflaster, vorbei an den Passanten auf dem Bürgersteig, eine Aktentasche unter dem Arm. „Spatz!“ riefen wir.
Er freute sich, uns zu sehen, erklärte aber, er habe es sehr eilig, und lief davon, nachdem er versprochen hatte, uns zu besuchen. Am nächsten Tage kam er zu uns und erzählte von sich und einigen anderen Schkidern.
Er arbeitet in einer Druckerei zusammen mit Happen, Mamachen, Brotkanten und Admiral. Sie sind alle Komsomolzen und Aktivisten. Spatz ist außerdem Sekretär des Kollektivs. Von ihm erfuhren wir auch, wie es dem Nackten Herrn und Kutscher geht. Der Nackte arbeitet in der Fabrik „Roter Stern“, Kutscher im Werk „Bolschewik“. Und erst vor ganz wenigen Tagen drang ein gewaltiger Mann mit Regenmantel und hohen Jagdstiefeln in unser Zimmer ein. Trotz eines Bartes kam uns sein Gesicht bekannt vor. „Zigeuner!“ riefen wir.
„Er ist es, Halunken!“ antwortete der Mann, und schon dieser Satz überzeugte uns, daß tatsächlich Zigeuner vor uns stand. Er ist Agronom und kam aus dem Sowchos, wo er schon über ein Jahr arbeitet, auf Dienstreise nach Leningrad. Abends saßen wir vor dem Schlafengehen am offenen Fenster und tauschten halblaut Erinnerungen an die Schkid aus. Herbstliche Dämmerung, grau und blaß, drang herein. Auf dem Hinterhof spielte ein kleiner Junge mit einem Eisenreifen. Hinter dem Zaun sang jemand das Budjonnylied. Dann hörten wir Gelächter. „Wo sind der Gewissenlose und Ochse jetzt?“
„Noch im Technikum. In der letzten Klasse.“
„Haben sie sich verändert?“
„Ihr würdet sie nicht wiedererkennen.“ Zigeuner sah uns einen Augenblick schweigend an. Dann lächelte er. „Ihr habt euch auch verändert. Und wie! Besonders Jankel. Du siehst gar nicht mehr wie ein 'Jankel' aus.“
„Und Ljonka?“
Zigeuner lachte auf.
„Ja, die Schkid, die verändert den Menschen!“
Er zündete seine Machorkazigarette wieder an und blies eine blaue Rauchwolke aus dem Fenster in die beginnende Dunkelheit.
„Wißt ihr noch?“ fragte er, neigte den Kopf und sang leise:
NACHWORT
Als „Schkid, die Republik der Strolche“, Ende der zwanziger Jahre im Verlag der Jugendinternationale, Berlin, erschien, war dem Buch außer dem „Epilog“ ein Brief angefügt, den einer der Autoren am 7. April 1929 an den Verlag gerichtet hatte. Die russische Ausgabe war zwei Jahre zuvor in Leningrad herausgekommen. Inzwischen sind die Angaben über die „Helden und Autoren“ — wie L. Pantelejew schrieb — bereits „überholt und bedürfen der Ergänzung“:
…Der „defekte“ Wildfang Japs hat das Institut für dramatische Kunst in Leningrad beendet. Er ist Regisseur an einem Leningrader Theater. Sascha Pylnikow, der Radaubruder, hat sich jetzt selbst in einen „Propheten“ verwandelt; er lehrt Mathematik in einer Leningrader Schule. Kolka, der Zigeuner, ist Bezirksagronom im Tscherepomezker Gouvernement. Falke ist im letzten Kurs des Instituts für Kunstgeschichte, und Happen ist auf der Akademie für Luftschiffahrt auf der Krim. Bessowestin ist Ingenieur, „Kaufmann von Offenbach“ Offizier. Was uns, die Autoren dieses Buches, betrifft, so sind mir weiterhin literarisch tätig. Genösse Bjelych hat ein Buch mit Kindererzählungen herausgegeben: „Isidors Ziege“. Jetzt schreibt er einen großen autobiographischen Roman: „Das Haus der lustigen Bettler“.
Ich schrieb ein Buch für Kinder: „Porträt“ und eine Novelle aus dem Leben minderjähriger Verbrecher: „Die Uhr“. Auf Verlangen eines Theaters und einer Filmgesellschaft bearbeite ich gegenwärtig den gleichen Stoff („Die Uhr“) für die Bühne und den Film.
Gemeinsam mit Bjelych arbeite ich an einem Zyklus „Schkider Erzählungen“. Außerdem sind wir für die Presse tätig…
Heute ist längst veraltet, was damals berichtet wurde. Der Mitautor, Grigori Georgiewitsch Bjelych, weilt, wie viele seiner Mitschüler, nicht mehr unter den Lebenden. Er ist 1938 im Alter von zweiunddreißig Jahren gestorben. Als Verfasser von Kindererzählungen und Redakteur der Zeitschrift „Smena“ hatte Bjelych die schon in der „Schkid“ begonnene schriftstellerische und journalistische Tätigkeit fortgesetzt. Er war der Jankel, den wir in der „Schkid“ kennenlernten.
Da ist der Augenblick, in dem er und Pantelejew zum Schulleiter gehen und um ihre Entlassung bitten.
Jankel brachte vieles vor. Er sagte, daß sie ihrem Alter nach nicht mehr in die Schule hineinpaßten; er sprach von ihrem Wunsch, so schnell wie möglich ins Leben zu treten, um zu arbeiten.
„In stummer Erwartung sahen sie den Direktor an. Nachdenklich saß Vikniksor da, ein kaum merkliches, verständnisvolles Lächeln auf den Lippen. Dann stand er auf, ging durch den Raum und maß die beiden Jungen noch einmal mit einem eindringlidien Blick.
'lhr habt recht', sagte er dann.
Jankel und Ljonka fuhren vor Erleiditerung zusammen.
'lhr habt recht', niederholte Vikniksor. 'Ihr habt jetzt das ausgesprochen, was ich eudi in einem halben Jahr sagen wollte. Ich sehe, daß ich mich etwas in der Zeit geirrt habe. Ihr seid ein halbes Jahr früher reif geworden. Die Schule hat euch als kleine Diebe, als Strolche aufgenommen. Jetzt seid ihr aber herangewachsen, und ich spüre, daß die Zeit, die ihr in der Schule verbracht habt, für euch nicht umsonst war. Ich habe sdion längst erkannt, daß ihr durch die Umerziehung stark genug geworden seid, um ins Leben zu treten. Ich weiß, ihr werdet künftig keine Parasiten, kein Abschaum der Gesellschaft mehr sein, und deshalb sage ich euch ganz offen: Ich halte euch nicht zurück… Wenn es euch aber schwerfallen sollte, eine Beschäftigung zu finden, dann kommt zu mir. Ich will versuchen, euch dabei zu helfen. Ihr seid es wert.'“