Ja, sie waren stark genug, genügend umgemodelt, nun ins Leben zu treten. Die „Schkid“ hatte sie für das Leben gewonnen, für ein neues Leben. Das ist die große Idee, die das ganze Buch durdizieht.
Das Leben vorher war unendlidi schwer gewesen. Gegen eine Welt von Feinden hatte sich die Revolution verteidigen müssen. Krieg, Bürgerkrieg und die Hungersnot, die der großen Dürre im Jahre 1921 folgte hatten auch unter der heranwachsenden Jugend ihren Tribut gefordert. Viele Jugendliche verloren Eltern und Erzieher, wurden heimatlos, aus der Bahn einer normalen Entwicklung geworfen. Sdiaren hungriger und zerlumpter Kinder trieben sidi die Bahnstrecken entlang, überliefen die Städte, bettelten, stahlen und wurden zu einer regelrechten sozialen Plage.
Noch tobte der Bürgerkrieg, nodi lag die Wirtschaft danieder, als die Sowjetmacht den Kampf gegen die Kinderverroahrlosung begann. Sammelstellen wurden geschaffen, die die verwahrlosten Kinder aufnahmen und auf sdmell eingeriditete Kinderheime und Sdiulen verteilten.
Eines dieser Heime war die „Schkid“ in Petrograd, heute Leningrad. Trotz ungünstigster Bedingungen unternahm sie ihre ersten Schritte im Kampf gegen das jugendliche Verbrechertum. Es herrschte Mangel am Notwendigsten. Die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Lebensmitteln war unvorstellbar schlecht. Heizmaterial konnte nur unter größten Schmierigkeiten beschafft werden. Um jedes Stück Kleidung mußte man einen hartnäckigen Kleinkrieg mit den Verteilungsstellen führen. Und sddießlidi gab es keinen Stab von erfahrenen und bewährten Pädagogen, die fähig gewesen wären, die kleinen Banditen zu brauchbaren Menschen zu erziehen — diese Jungen, die in die „Schkid“ kamen, belastet mit einer schrecklidien und traurigen Vergangenheit, boshaft und hungrig, mißtrauisch gegen jedes und alles, behaftet mit der Psychologie des Hooligans, dem „alles erlaubt ist“. Unüberwindlich schienen die Schwierigkeiten, vor denen die Sowjetmacht auf diesem Gebiet stand. Hingebungsvolle und opferfreudige Arbeit aber schuf hier Bahn. Unter gewaltigen Anstrengungen, nach vielen Rücksdüägen nur gelang es damals, das Übel einzudämmen und ein Netz von Anstalten und Schulen für die verwahrlosten Kinder zu schaffen.
Noch 1929 schirieb Pantelejew in seinem Brief an den Verlag: „Unser Sowjetland ist nicht sehr reich. Die Mittel zur Bekämpfung der Kinderobdachlosigkeit sind knapp.“
Aber er konnte damals schonhinzufügen: „Dennoch, der Stamm der jungen Landstreicher nimmt mit jedem neuen Jahr merklich ab. Es kommt die Zeit, da die Republik SCHKID ihre Tore schließen wird — niemand wird in ihren Mauern mehr Unfug treiben…“
Die Zeit ist längst gekommen.
Erst zwanzig Jahre alt war Pantelejew, als er diesen Brief schrieb. Heute gehört er zu den beliebtesten Jugendsdiriftstellern der Sowjetunion. Alexej Iwanowitsdi Pantelejew ist am 22. August 1908 in Petersburg geboren. In dem vorliegenden Buch erzählt er selbst die Gesdiidite seines Lebens bis zum Eintritt in die „Schkid“. „Dieser stille, schüditerne, wortkarge Bursdie war, wie man so sagt, durdi Feuer und Wasser gegangen.“ Ungefähr drei Jahre war Ljonka Bürger der Republik „Schkid“. Hier träumte er zusammen mit seinem „Blutsbruder“ Jankel von Zukunftsplänen. Nach Baku, wo damals der berühmte Regisseur Peristiani wirkte, sind die beiden allerdings nicht gekommen. Ljonka arbeitete in verschiedenen Berufen, ehe er 1925 Filmbesprediungen, Skizzen und Kurzgesdiiditen für Zeitungen und Zeitsdiriften zu sdireiben begann. Er war Schuhmacher, Kinomedianikerlehrling, Kochgehilfe in einem Restaurant und Bibliothekar.
Damals entsdilossen sidi Pantelejew und Bjelych, zusammen ein Buch über ihre gemeinsamen Erlebnisse in der „Schkid“ zu verfassen. In kurzer Zeit war der Entschluß in die Tat umgesetzt. Das fertige Manuskript übergaben die jungen Autoren — Pantelejew wär kaum achtzehn Jahre alt — einem Bekannten aus der Leningrader Abteilung für Volksbildung, der sie verwundert fragte: „Was — Ihr habt ein Buch geschrieben?“ Die Verwegenen waren zunächst entmutigt und hatten kaum Hoffnung, daß sich ein Verlag für das Buch interessieren könnte. Zufällig erfuhren sie einige Monate später, daß der Staatsverlag für Literatur das Manuskript — mit ausdrücklicher Befürwortung Gorkis — angenommen hatte und zum Druck vorbereitet.
Für Pantelejews Weg als Schriftsteller wurde die Bekanntschaft mit Gorki bestimmend. Auf Empfehlung des großen Dichters arbeitete er unermüdlich an seiner Weiterbildung und besuchte die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. 1930 veröffentlichte Pantelejew die Erzählung „Das Paket“, in der von der Heldentat eines einfachen Rotarmisten aus der Reiterarmee Budjonnys erzählt wird. Das Thema der Heldentat ist überhaupt in seinem Schaffen führend geblieben. Während des Grollen Vaterländischen Krieges lebte der Schriftsteller im belagerten Leningrad. Seine Kriegseindrücke fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Erzählungen. Großer Popularität bei den jugendlichen Lesern erfreuen sich seine autobiographische Erzählung „Ljonka Pantelejew“ sowie die Erzählungen „Die erste Heldentat“, „Das Ehrenwort“ und andere. Pantelejew ersdiließt den Jugendlichen in seinen Werken nicht nur die Romantik einer Heldentat, sondern weckt in ihnen den Wunsch, sich auch im alltäglichen Leben Eigenschaften eines „wahren Menschen“ anzuerziehen. Sein Werk ist von dem optimistischen Glauben an den Menschen durchzogen. Es ist derselbe kämpferische Humanismus, die gleiche pädagogische Idee, für die Gorki oft so schöne Worte fand: „Unser Ziel ist es, die Jugend zu lehren, das Leben zu lieben und an das Leben zu glauben. Der Mensch muß wissen, daß er der Schöpfer und der Herr der Welt ist, daß er die Verantwortung für alles Unglück der Welt trägt und daß ihm auch die Ehre gebührt für alles Gute, das es in der Welt gibt.“ (Gorki an Romain Rolland, 1917).
Dem Buch über die „Schkid“ war seinerzeit ein erstaunlicher Erfolg beschieden: Innerhalb kurzer Zeit erschienen zehn Auflagen in russischer Sprache, in vielen Ländern wurde „Schkid“ übersetzt. Wie hoch Gorki das Buch einschätzte, drückt sich in folgendem Brief an Makarenko aus:
Lieber Genösse Makarenko,
da ich „Phantasie“ besitze, konnte idi mir natürlidi vorstellen, wie schwer es für Sie sein muß, über dreihundert Jugendliche, die für Disziplin und organisierte Arbeit nicht viel übrig haben, das Kommando zu führen. Doch obgleich ich es mir vorstellen konnte, vermochte ich natürlich nicht die ganze Kompliziertheit Ihrer Lage mitzufühlen.
Jetzt aber fühle und — verstehe ich Sie. Fühlen und verstehen, wer Sie sind und wie verteufelt schwer Ihre Arbeit ist, lehrten mich zwei ehemalige kleine Diebe, die Verfasser des hochinteressanten Buches „Die Republik Schkid“. „Schkid“ ist eine Abkürzung von „Dostojewski-Schule für Schwererziehbare“. Sie, die Zöglinge dieser Sdiule waren, haben deren Alltag und ihre eigene Lage in dieser Sdiule geschildert und die wirklich monumentale Gestalt des Schulleiters Viktor Nikolajewilch Sorokin dargestellt, eines wahren Märtyrers und echten Helden. Um zu verstehen, was ich Ihnen aus ganzem Herzen sagen möchte, müssen Sie dieses wundervolle Buch selber lesen. Aber ich möchte Ihnen folgendes sagen: Mir scheint, Sie sind ebenso ein großer Mensch wie dieser Vikniksor, wenn nicht ein größerer, ebenso ein Märtyrer und echter Kinderfreund. Gestatten Sie mir respektvolle Anerkennung und Bewunderung Ihrer Willenskraft. Es liegt etwas besonders Bedeutsames darin, daß ebensolche Burschen wie Ihre Zöglinge, Ihre Kolonisten, mir geholfen haben, mit Ihnen zu fühlen und Ihre Arbeit zu verstehen. So ist es doch, nicht wahr?