Nun, das märe alles, mas ich Ihnen sagen wollte.
Lesen Sie die „Republik Schkid“ — erschienen im Staatsverlag —, schreiben Sie mir Ihre Gedanken über dieses Buch und seinen Haupthelden Vikniksor.
Ich drücke Ihnen fest die Hand.
Sorrent, 28. März 1927
Als uns das Buch über die „Schkid“ vor dreißig Jahren in die Hände fiel, erregte es uns ebenso wie kurz darauf der Film „Der Weg ins Leben“. In diesem Film erlebten mir das große Drama des Kampfes um den Menschen, seiner Befreiung aus den Niederungen des Lebens. Es mär kein Film nach dem „pädagogischen Poem“ von Makarenko. Dessen Name und dessen Werk waren uns damals noch unbekannt. Aber heute missen wir, daß sich in dem pädagogischen und literarischen Werk Makarenkos jener heroische Kampf um den Mensdien widerspiegelt. Damals führte die Partei „die letzten Schläge gegen die letzten Reste einer mißratenen, demoralisierten Kindheit“, schrieb Makarenko im „Weg ins Leben“.
Als lebendiges Zeugnis dieser Übergangszeit beriditet die Chronik der „Schkid“ von manchem, was in den pädagogischen Grundsätzen Makarenkos nicht mehr zu finden ist, was längst als falsch und fehlerhaft erkannt und beseitigt wurde. Das Gesamtbild der jungen Generation prägten nicht die verwahrlosten Kinder — diese Geißel der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution —, sondern die heldenhaften Leistungen junger Kämpfer und Aktivisten, der kühnen Erbauer des Sozialismus in der Sowjetunion. Der Leser von heute sollte diese Tatsache berücksichtigen. „Schkid — die Republik der Strolche“ wird uns das Verständnis für die Gesamtentmicklung erleichtern. Damals haben wir das Buch verschlungen und empfanden so, wie es Gorki in seinem Brief beschrieb. Durch allen Unfug hindurch spürten und erkannten wir den revolutionären, optimistischen Elan, der uns mitriß. Der Kampf der Sowjetpädagogen, ihr unbedingter Wille, das Übel mit der Wurzel auszurotten, ihre revolutionäre Geduld und Zähigkeit — dies alles sdmf unauslöschlidie Eindrücke. Aus diesem Buch schlug etwas von der heroischen Leidensdiaft zu uns herüber, mit der in der Sowjetunion eine tiefe revolutionäre humanistische Pädagogik lebte. Hier klang der Ton einer optimistisdien, aber durchaus realistischen Pädagogik. Wir waren mit den sowjetischen Pädagogen felsenfest davon überzeugt, daß kein so junger Mensch, wie die kleinen Banditen, endgültig verdorben und für die menschlidie Gesellschaft verloren sein könne. Wir erlebten bei der Lektüre des Buches mit, wie sich die „Schkider“ veränderten. Aber wir wußten auch schon damals, daß dies eine sowjetisdie Veränderung war. Die Strolche wären nicht von der jungen Sowjetmacht hervorgebracht worden. Sie waren eines der üblen Ergebnisse des Verfalls der alten Gesellschaft.
Sowjetisch war ihre Verwandlung in gesunde, aktive, sozialistische Menschen! In den dreißig Jahren, die inzwischen vergangen sind, blieb die Pädagogik in der Sowjetunion nicht auf dem Fleck stehen. Sie wuchs mit der ganzen Sowjetmacht. Der Start des ersten künstlichen Planeten hat einen neuen, bedeutsamen Zeitabschnitt eingeleitet: den umfassenden Aufbau der kommunistischen Gesellschaft in der Sowjetunion. Die Veränderungen, die gegenwärtig im sowjetisdien Schulwesen vor sich gehen, tragen dieser stürmisdien Weiterentwicklung Rechnung.
Wenn wir heute auf das Buch von der „Schkid“ zurückblicken, mag sinngemäß gelten, was Makarenko 1935 schrieb, als er sein literarisches Meisterwerk, das pädagogische Poem „Der Weg ins Leben“ abschloß: „In weiter, weiter Ferne liegt mein erster Tag in der Gorki-Kolonie, jener Tag voller Schimpf und Ohnmacht, und er kommt mir jetzt vor wie ein ganz winziges Bildchen im kleinen Guckloch eines Panoramas.“
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Übersetzerin Lieselotte Remane verstorben 06.08.2002 (Berliner Zeitung).
Am 30. Juni 2002 Lieselotte Remane im Alter von 88 Jahren gestorben. Nach dem Krieg arbeitete sie in der Kulturredaktion dieser Zeitung, die sie Mitte der fünfziger Jahre aus politischen Gründen verlassen musste. Später engagierte sie sich wie ihr Mann Martin Remane als Übersetzerin für die russische Literatur und vor allem für russische Kinderbücher. Von ihr stammt die erste Übersetzung von Prokofjews musikalischem Märchen „Peter und der Wolf“.