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»Mein Gedächtnis ist nicht mehr, was es einmal war«, sagte Ralph zu ihr.

Die Arzthelferin schlug nächsten Donnerstag um zwei vor. Ralph entgegnete, er würde zurückrufen.

Lügen haben kurze Beine, dachte er, als er den Hörer auflegte, langsam zum Sessel zurückging und sich darauf niederließ. Du bist fertig mit ihm, oder nicht?

Er ging davon aus. Nicht, daß Dr. Litchfield deswegen schlaflose Nächte haben würde; wenn er überhaupt an Ralph dachte, dann als einen alten Tattergreis weniger, der ihm bei der Prostata-Untersuchung ins Gesicht furzte.

Na gut, und was willst du gegen die Schlaflosigkeit tun, Ralph?

»Eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen still dasitzen und klassische Musik hören«, sagte er laut. »Und ein paar Pampers kaufen, falls die Natur doch ihr Recht verlangt.«

Er war selbst erstaunt, als er laut lachte, wie er sich vorstellte, wie er in seinem Sessel saß und nichts außer einer Wegwerfwindel für Erwachsene trug, während er Bach hörte. Das Lachen hatte einen hysterischen Unterton, der ihm nicht besonders gefiel - er war sogar verdammt unheimlich -, aber es dauerte trotzdem eine Weile, bis er wieder aufhören konnte.

Und doch vermutete er, daß er Hamilton Davenports Vorschlag ausprobieren würde (aber auf die Windeln würde er verzichten, herzlichen Dank), wie er die meisten Hausmittel ausprobiert hatte, die ihm wohlmeinende Zeitgenossen anvertraut hatten. Dabei mußte er an sein erstes Bona-fide-Hausmittel denken, und das bewirkte ein neuerliches Grinsen.

Es war McGoverns Vorschlag gewesen. Er hatte am Abend auf der Veranda gesessen, als Ralph mit Nudeln und Spaghettisauce aus dem Red Apple zurückkam, hatte seinen Nachbarn vom Stock über sich angesehen, ein Tss-tss von sich gegeben und traurig den Kopf geschüttelt.

»Was soll das heißen?« fragte Ralph und setzte sich neben ihn. Ein Stück weiter die Straße hinunter hatte ein kleines Mädchen in Jeans und einem zu großen weißen T-Shirt in der zunehmenden Düsternis gesungen und Seilhüpfen gespielt.

»Es heißt, daß du übernächtigt, hohlwangig und verstümmelt aussiehst«, sagte McGovern. Er schob den Panamahut auf dem Kopf mit dem Daumen zurück und sah Ralph eingehend an. »Immer noch kein Schlaf?«

»Immer noch kein Schlaf«, stimmte Ralph zu.

McGovern schwieg ein paar Augenblicke. Als er wieder sprach, geschah es in einem Tonfall absoluter - sogar beinahe apokalyptischer - Endgültigkeit. »Die Lösung ist Whiskey«, sagte er.

»Pardon?«

»Für deine Schlaflosigkeit, Ralph. Ich meine nicht, daß du darin baden solltest - dazu besteht kein Grund. Du solltest einfach einen Eßlöffel Honig mit einem halben Glas Whiskey mischen und das fünfzehn oder zwanzig Minuten, bevor du dich in die Falle haust, trinken.«

»Meinst du?« hatte Ralph hoffnungsvoll gefragt.

»Ich kann nur sagen, daß es mir geholfen hat, und ich hatte wirklich Schlafstörungen, als ich um die Vierzig war. Wenn ich heute zurückdenke, schätze ich, daß das meine Midlife-Crisis gewesen sein muß - sechs Monate Schlaflosigkeit und ein Jahr lang Depressionen wegen meiner kahlen Stelle.«

Obwohl in allen Büchern, die er konsultiert hatte, zu lesen stand, daß Alkohol ein weit überschätztes Mittel gegen Schlaflosigkeit sei - daß er das Problem nicht selten schlimmer statt besser mache -, hatte Ralph es trotzdem versucht. Er war nie ein nennenswerter Trinker gewesen, daher reduzierte er McGoverns empfohlene Dosis von einem halben Glas auf ein Viertelglas, aber nach einer Woche ohne Besserung hatte er sie auf ein volles Glas hochgeschraubt… dann zwei. Er wachte um 4:22 Uhr mit garstigen Kopfschmerzen auf, die den dumpfen braunen Geschmack von Early Times auf seinem Gaumen begleiteten, und hatte festgestellt, daß er mit dem ersten Kater seit fünfzehn Jahren aufgewacht war.

»Das Leben ist zu kurz für diesen Quatsch«, verkündete er seiner leeren Wohnung, und das war das Ende des großen Whiskeyexperiments gewesen.

2

Okay, dachte Ralph jetzt, während er den sporadischen Strom der Kunden beobachtete, die auf der anderen Straßenseite ins Red Apple hinein und wieder heraus gingen. Das ist die Situation: McGovern sagt, du siehst beschissen aus, heute morgen bist du fast vor Lois Chasse ohnmächtig geworden, und du hast gerade einen Termin beim alten Hausarzt abgesagt. Was nun? Läßt du es einfach dabei bewenden? Akzeptierst du die Situation und beläßt es dabei?

Der Gedanke besaß einen gewissen orientalischen Charme -Schicksal, Karma, und so weiter -, aber er würde mehr als Charme brauchen, um die langen, frühen Morgenstunden zu überstehen. In den Büchern stand, daß es Menschen auf der Welt gab, und nicht einmal wenige, die ganz gut mit nicht mehr als drei oder vier Stunden Schlaf täglich auskamen. Es gab sogar einige, denen reichten zwei. Sie waren eine extrem kleine Minderheit, aber sie existierten. Ralph Roberts jedoch gehörte nicht zu ihnen.

Wie er aussah, war ihm nicht besonders wichtig - er hatte das Gefühl, daß seine Tage als Fernseh-Idol vorbei waren -, aber wie er sich fühlte, das war ihm wichtig, und es ging nicht mehr darum, daß er sich schlecht fühlte, er fühlte sich beschissen. Die Schlaflosigkeit durchdrang jeden Aspekt seines Lebens, so wie der Geruch von brutzelndem Knoblauch im vierten Stock letztendlich das ganze Gebäude durchzieht. Die Umwelt verlor ihre Farben; die Welt nahm das graue, körnige Aussehen eines Zeitungsfotos an.

Einfache Entscheidungen - zum Beispiel ob er sich ein tiefgekühltes Fertiggericht auftauen oder sich im Red Apple ein Sandwich holen und zum Picknickplatz an der Startbahn 3 gehen sollte - wurden schwierig, fast quälend. In den vergangenen zwei Wochen war er immer häufiger mit leeren Händen von Dave’s Video Stop zurückgekommen, aber nicht, weil er bei Dave nichts fand, das er sehen wollte, sondern weil es zuviel gab - er konnte sich nicht entscheiden, ob er einen der Dirty Harry-Filme, eine Komödie mit Billy Crystal oder ein paar der alten Folgen von Raumschiff Enterprise sehen wollte. Nach ein paar erfolglosen Ausflügen war er in seinen Sessel gefallen und hatte vor Frustration fast geweint… und vor Angst, vermutete er.

Die schleichende Lähmung der Sinne und die Erosion seiner Entscheidungsfähigkeit waren aber nicht die einzigen Probleme, die er mit seiner Schlaflosigkeit in Verbindung brachte; sein Kurzzeitgedächtnis ließ ebenfalls deutlich nach. Er ging gewohnheitsmäßig mindestens einmal pro Woche ins Kino, mitunter zweimal, seit er von der Druckerei, wo er als Buchhalter und Mädchen für alles gearbeitet hatte, in den Ruhestand geschickt worden war. Bis letztes Jahr hatte er Carolyn mitgenommen, dann war sie so krank geworden, daß sie sich an nichts mehr erfreuen konnte. Nach ihrem Tod war er meistens alleine gegangen, nur ein-oder zweimal hatte ihn Helen Deepneau begleitet, wenn Ed zu Hause auf das Baby aufpaßte (Ed selbst ging fast nie aus; er behauptete, daß er im Kino Kopfschmerzen bekam). Ralph hatte die automatische Telefonauskunft des Kinos so häufig angewählt, um Anfangszeiten zu erfahren, daß er die Nummer auswendig kannte. Aber im Verlauf des Sommers mußte er sie immer häufiger in den Gelben Seiten nachschlagen - er war nicht mehr sicher, ob die letzten Ziffern 1317 oder 1713 waren.

»Sie sind 1713«, sagte er jetzt. »Ich weiß es.« Aber wußte er es wirklich?

Ruf Litchfield zurück. Los doch, Ralph - hör auf, in den Trümmern zu wühlen. Tu etwas Produktives. Und wenn dir Litchfield tatsächlich so gegen den Strich geht, dann ruf einen anderen Arzt an. Im Telefonbuch stehen mehr Ärzte denn je.

Das stimmte wahrscheinlich, aber mit siebzig war man vielleicht ein bißchen zu alt, um sich einen neuen Knochenflicker nach der Eene-meene-mu-Methode auszusuchen. Und Litchfield würde er nicht zurückrufen. Definitiv.