Okay, was dann, du störrischer alter Bock? Noch ein paar Hausmittel? Ich hoffe nicht, denn bei deinem Verschleiß wirst du in Null Komma nichts bei Lurchaugen und Krötenzungen landen.
Die Lösung, die ihm einfiel, war wie ein kühles Lüftchen an einem heißen Tag… und es war eine grotesk simple Lösung. Seine Lektüre den ganzen Sommer über hatte darauf abgezielt, das Problem zu verstehen, statt eine Lösung dafür zu finden. Wenn es um Lösungen ging, hatte er sich fast ausschließlich auf private Hausmittelchen wie Whiskey und Honig verlassen, selbst wenn die Bücher ihm versichert hatten, daß sie gar nicht oder nur kurze Zeit helfen würden. Obwohl man in den Büchern ein paar angeblich zuverlässige Methoden nachlesen konnte, mit Schlaflosigkeit fertigzuwerden, hatte Ralph bisher nur die einfachste und einsichtigste ausprobiert: früher am Abend ins Bett zu gehen. Diese Lösung hatte nicht funktioniert - er hatte einfach bis halb zwölf oder so wachgelegen, war dann eingeschlafen und zu einem neuen, früheren Zeitpunkt aufgewacht -, aber möglicherweise half etwas anderes.
Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
3
Statt den Nachmittag mit seiner üblichen hektischen Gartenarbeit zu verbringen, ging Ralph in die Bibliothek und blätterte ein paar Bücher durch, die er schon gelesen hatte. Der allgemeine Konsens schien zu sein, wenn es nichts half, früher ins Bett zu gehen, dann vielleicht, wenn man später ging. Ralph kehrte von verhaltener Hoffnung erfüllt nach Hause zurück (eingedenk seines früheren Abenteuers mit dem Bus). Es könnte klappen. Und wenn nicht, blieben ihm immer noch Bach, Beethoven und William Ackerman.
Sein erster Versuch, diese Technik auszuprobieren, die in einem der Bücher als »Schlafverzögerung« bezeichnet wurde, endete komisch. Er erwachte zur inzwischen üblichen Zeit (3:45, wie ihm die Digitaluhr auf dem Kaminsims im Wohnzimmer verriet) mit wundem Rücken und schmerzendem Hals und hatte zunächst keine Ahnung, wie er in den Sessel am Fenster gelangt war und weshalb der Fernseher lief, der außer Schnee und einem leisen, brandungsähnlichen Rauschen nichts sendete.
Erst als er den Kopf vorsichtig drehte und dabei den Nacken mit der Hand stützte, wurde ihm klar, was geschehen war. Er hatte vorgehabt, bis mindestens drei, wenn möglich vier Uhr wachzubleiben. Dann wollte er ins Bett gehen und den Schlaf des Gerechten schlafen. So jedenfalls hatte der Plan ausgesehen. Statt dessen war der Superschlaflose der Harris Avenue bei Jay Lenos Eröffnungsmonolog eingenickt wie ein Kind, das versucht, die ganze Nacht aufzubleiben, nur um zu sehen, wie es ist. Und dann hatte das Abenteuer selbstverständlich seinen Abschluß damit gefunden, daß er zur gewohnten Zeit wieder aufgewacht war. Das Problem war dasselbe, würde Joe Friday wahrscheinlich gesagt haben; nur der Schauplatz hatte sich verändert.
Ralph schlenderte trotzdem ins Bett und hoffte entgegen jeder Hoffnung, aber der Drang (wenn nicht das Bedürfnis) zu schlafen, war vergangen. Nachdem er eine Stunde wachgelegen hatte, war er wieder zu seinem Sessel gegangen, diesmal mit einem Kissen, das er hinter seinen steifen Hals steckte, und einem reumütigen Grinsen im Gesicht.
Sein zweiter Versuch, der in der darauffolgenden Nacht stattfand, hatte nichts Komisches. Die Müdigkeit stellte sich zur gewohnten Zeit ein - 23:20, als Pete Cherney gerade die Wettervorhersage für den folgenden Tag verlas. Diesmal kämpfte Ralph erfolgreich dagegen an und schaffte es, bis Whoopi wachzubleiben (obwohl er bei Whoopis Unterhaltung mit Roseanne Arnold, dem Gast des heutigen Abends, fast eingenickt wäre), ind dann bis zum anschließenden Spätfilm. Es handelte sich um einen alten Streifen mit Audie Murphy, in dem Audie den Krieg im Pazifik praktisch im Alleingang zu gewinnen schien. Manchmal hatte Ralph den Eindruck, als existiere eine unausgesprochene Abmachung zwischen den lokalen Fernsehsendern, wonach Filme, die in den frühen Morgenstunden gesendet wurden, nur Audie Murphy oder James Brolin in den Hauptrollen haben durften.
Nachdem der letzte japanische Bunker gesprengt worden war, verabschiedete sich Kanal 2. Ralph schaltete herum und suchte nach einem anderen Film, fand aber nichts als Flimmern. Er vermutete, wenn er Kabel gehabt hätte, hätte er die ganze Nacht Filme sehen können, wie Bill oder Lois; er erinnerte sich, daß er es auch auf seine Liste zu erledigender Dinge im neuen Jahr geschrieben hatte. Aber dann war Carolyn gestorben, und Kabelfernsehen schien - mit oder ohne Home Box Office - nicht mehr wichtig zu sein.
Er fand eine Ausgabe von Sports Illustrated und las einen Artikel über Damentennis durch, den er beim erstenmal vergessen hatte, und sah immer wieder auf die Uhr, als sich die Zeiger der Drei näherten. Er war fast überzeugt, daß es funktionieren würde. Seine Lider waren so schwer, daß ihm schien, sie wären in Beton getunkt worden, und obwohl er den Tennisartikel gründlich las, Wort für Wort, hatte er keine Ahnung, worauf der Verfasser hinauswollte. Ganze Sätze schössen durch sein Gehirn, ohne sich festzusetzen, wie kosmische Strahlen.
Ich werde heute nacht schlafen - das glaube ich wirklich. Zum erstenmal seit Monaten wird die Sonne ohne meine Hilfe aufgehen müssen, und das ist nicht nur gut, Freunde und Nachbarn, das ist großartig.
Kurz nach drei Uhr löste sich die angenehme Schläfrigkeit dann langsam auf. Sie ging nicht mit einem Knall, wie ein Sektkorken, sondern schien wegzutröpfeln wie Sand durch ein feines Sieb oder Wasser einen teilweise verstopften Abfluß hinunter. Als Ralph feststellte, was passierte, verspürte er keine Panik, sondern niedergeschlagene Resignation. Er kannte das Gefühl als wahres Gegenteil von Hoffnung, und als er um Viertel nach drei mit seinen Hausschuhen ins Schlafzimmer schlurfte, konnte er sich nicht erinnern, schon einmal eine Depression erlebt zu haben wie die, die ihn jetzt umfing. Ihm war, als müßte er daran ersticken.
»Bitte, Gott, nur ein kleines Nickerchen«, murmelte er, als er das Licht ausschaltete, aber er vermutete sehr, daß dieses Gebet nicht erhört werden würde.
Es wurde nicht erhört. Inzwischen war er fast vierundzwanzig Stunden wach, aber um Viertel vor vier war jedes Quentchen Müdigkeit aus seinem Geist und seinem Körper verschwunden. Er war müde, ja - müder und erschöpfter als jemals zuvor in seinem Leben -, aber müde und schläfrig zu sein, hatte er feststellen müssen, waren mitunter nicht immer dasselbe. Der Schlaf, der unparteiische Freund, die beste und zuverlässigste Krankenschwester der Menschheit seit Anbeginn der Zeit, hatte ihn wieder im Stich gelassen.
Um vier Uhr war ihm sein Bett verhaßt geworden, wie immer wenn er feststellte, daß er es nicht seinem Verwendungszweck zuführen konnte. Er schwang die Füße wieder auf den Boden und kratzte sich das - inzwischen fast graue Haar, das sich aus dem weitgehend aufgeknöpften Pyjamaoberteil kräuselte. Er schlüpfte in die Hausschuhe und schlurfte ins Wohnzimmer zurück, wo er sich in seinen Ohrensessel fallenließ und auf die Harris Avenue hinausschaute. Diese lag wie eine Bühnenkulisse vor ihm, und der einzige Schauspieler, der im Augenblick zu sehen war, war nicht einmal ein Mensch: Es war ein streunender Hund, der langsam Richtung Strawford Park und Up-Mile Hill die Harris Avenue entlanglief. Er hielt das linke Hinterbein so weit wie möglich hoch und hinkte so gut es ging auf den drei anderen.
»Hallo, Rosalie«, murmelte Ralph und strich sich mit einer Hand über die Augen.
Es war Donnerstag morgen, in der Harris Avenue wurde der Müll abgeholt, daher war er nicht überrascht, Rosalie hier zu sehen, die seit etwa einem Jahr quasi als wanderndes Inventar die Gegend unsicher machte. Sie schlich gemächlich die Straße entlang und untersuchte die Reihen und Gruppen der Mülltonnen so wählerisch wie ein Flohmarktprofi.
Rosalie - die heute morgen schlimmer denn je hinkte und so müde aussah wie Ralph sich fühlte - fand etwas, das wie ein mittelgroßer Rinderknochen aussah, und hinkte mit diesem Knochen im Maul davon. Ralph sah ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war, dann saß er einfach mit den Händen im Schoß da und betrachtete die stille Nachbarschaft, wo die grellen orangefarbenen Lampen die Illusion verstärkten, daß Harris Avenue eine Kulisse war, die nach Beendigung der Abendvorstellung, als die Schauspieler nach Hause gegangen waren, einsam und verlassen zurückgeblieben war; die Lampen leuchteten wie Scheinwerfer, eine perfekte, immer kleiner werdende Reihe, deren Perspektive wie eine Halluzination wirkte.