Ralph Roberts saß in dem Ohrensessel, wo er in letzter Zeit so viele frühe Morgenstunden verbracht hatte, und wartete darauf, daß Licht und Bewegung die leblose Welt unter ihm erfüllen würden. Schließlich betrat der erste menschliche Schauspieler -Pat, der Zeitungsjunge, der auf seinem Raleigh fuhr - die Bühne. Er radelte die Straße herauf, warf zusammengerollte Zeitungen aus dem Beutel, den er über der Schulter hängen hatte, und traf die Veranden, die er anvisierte, mit hinreichend großer Treffsicherheit.
Ralph beobachtete ihn eine Weile, dann stieß er ein Seufzen aus, das sich anhörte, als wäre es von ganz unten aus dem Keller gekommen, und stand auf, um sich Tee zu machen.
»Ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals etwas von dieser Scheiße in meinem Horoskop gelesen habe«, sagte er hohl, dann drehte er den Wasserhahn in der Küche auf und füllte den Kessel.
5
Der lange Donnerstagvormittag und der noch längere Donnerstagnachmittag lehrten Ralph Roberts eine wertvolle Lektion: drei oder vier Stunden Schlaf täglich nicht verächtlich abzutun, nur weil er sein ganzes Leben von der irrigen Voraussetzung ausgegangen war, daß er ein Anrecht auf mindestens sechs, normalerweise sieben Stunden hatte. Außerdem diente er als gräßliche Vorschau. Wenn sich sein Zustand nicht besserte, konnte er sich darauf einstellen, daß er sich bald meistens so fühlen würde. Verdammt, immer. Er ging um zehn Uhr ins Bett und dann wieder um eins und hoffte auf ein kleines Nickerchen - ein paar Minuten die Augen zumachen hätte ihm schon gereicht, und für eine halbe Stunde hätte er sein Leben hingegeben -, aber er konnte nicht einmal dösen. Er war erbärmlich müde, aber kein bißchen schläfrig.
Gegen drei Uhr beschloß er, sich eine Packung Lipton Cup-A-Soup zu machen. Er füllte den Teekessel mit frischem Wasser, stellte ihn auf die Herdplatte und machte den Schrank über dem Tresen auf, wo er Gewürze, Würzmischungen und verschiedene Tüten mit Essen aufbewahrte, die nur Astronauten und alte Männer tatsächlich zu sich zu nehmen schienen - Pulver, die der Verbraucher nur mit heißem Wasser aufgießen mußte.
Er schob ziellos Dosen und Flaschen herum und starrte dann einfach eine Weile in den Schrank, als würde er darauf warten, daß der Karton mit den Suppentüten auf wundersame Weise in dem freien Raum auftauchte, den er geschaffen hatte. Als das nicht geschah, wiederholte er den Vorgang, aber diesmal schob er alles wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück, bevor er wieder mit dem Ausdruck geistesabwesender Verwirrung hinstarrte, der (was Ralph barmherzigerweise nicht wußte) allmählich sein vorherrschender Gesichtsausdruck wurde.
Als der Teekessel pfiff, stellte er ihn auf eine der hinteren Platten und sah weiter in den Schrank. Dann dämmerte ihm sehr, sehr langsam -, daß er die letzte Packung Suppe gestern oder vorgestern aufgegossen haben mußte, obwohl er sich nicht daran hätte erinnern können, wenn sein Leben auf dem Spiel gestanden hätte.
»Ist das eine Überraschung?« fragte er die Kartons und Flaschen in dem offenen Schrank. »Ich bin so müde, daß ich mich nicht einmal an meinen eigenen Namen erinnern kann.«
Doch, das kann ich, dachte er. Er ist Leon Redbone. Na also!
Es war kein besonders guter Witz, trotzdem spürte er, wie ein zaghaftes Lächeln - leicht wie eine Feder - seine Lippen umspielte. Er ging ins Bad, kämmte sich das Haar und ging nach unten. Hier ist Audie Murphy auf dem Weg in feindliches Gebiet, um Vorräte zu beschaffen, dachte er. Primäres Zieclass="underline" ein Karton Lipton Cup-A-Soup Reis und Hühnerbrühe. Sollte es sich als unmöglich erweisen, dieses Ziel zu finden und anzuvisieren, werde ich auf das sekundäre Ziel ausweichen: Nudeln und Rindfleisch. Ich weiß, es ist ein riskantes Unternehmen, aber…
»… aber ich arbeite am besten allein«, sagte er laut, als er auf die Veranda trat.
Die alte Mrs. Perrine ging vorbei und warf Ralph einen stechenden Blick zu, sagte aber nichts. Er wartete, bis sie ein Stück weitergegangen war - er fühlte sich nicht imstande, heute nachmittag mit jemandem ein Gespräch zu führen, schon gar nicht mit Mrs. Perrine, die mit ihren zweiundachtzig immer noch nützliche Arbeit bei den Marines auf Parris Island gefunden hätte. Er tat so, als würde er den Farn betrachten, der vom Haken unter dem Giebel der Veranda hing, bis sie ihn sicherer Entfernung zu sein schien, dann überquerte er die Harris Avenue und betrat das Red Apple. Und da fing der Ärger des Tages erst richtig an.
Er betrat den Gemischtwarenladen, staunte wieder über das spektakuläre Scheitern des Schlafverzögerungsexperiments und fragte sich, ob die Ratschläge in den Büchern aus der Bibliothek nichts weiter waren als hochtrabende Versionen der Hausmittel, die ihm seine Bekannten nur zu gerne aufschwatzen wollten. Es war ein unangenehmer Gedanke, aber er glaubte, daß sein Verstand (oder die Kraft unter seinem Verstand, die für diese langsame Tortur verantwortlich zeichnete) ihm eine Botschaft geschickt hatte, die noch unangenehmer war: Du hast ein Schlaffenster, Ralph. Es ist nicht so groß, wie es einmal war, und es wird mit jeder Woche, die verstreicht, kleiner, aber du solltest besser dankbar für das sein, was du hast, denn ein kleines Fenster ist besser als gar kein Fenster. Das siehst du jetzt ein, oder?
»Ja«, murmelte Ralph, während er den Mittelgang entlang zu den hellroten Kartons mit Cup-A-Soup ging. »Das sehe ich jetzt voll und ganz ein.«
Sue, die Nachmittagskassiererin, lachte fröhlich. »Sie müssen Geld auf der Bank haben, Ralph«, sagte sie.
»Pardon?« Ralph drehte sich nicht um; er begutachtete die roten Kartons. Da war Zwiebel… Erbsen… Rindfleisch mit Nudeln… aber wo, zum Teufel, war Huhn mit Reis?
»Meine Mom hat immer gesagt, Leute, die Selbstgespräche führen, haben… O mein Gott!«
Einen Augenblick glaubte Ralph, sie hätte eine Bemerkung gemacht, die einfach zu komplex für seinen übermüdeten Verstand war, etwa daß Leute, die Selbstgespräche führten, Gott gefunden hätten, aber dann schrie sie. Er hatte sich gebückt, um die Kartons auf dem untersten Regal zu betrachten, aber bei dem Schrei schnellte er so ruckartig und hastig wieder hoch, daß seine Knie knackten. Er wirbelte zum Eingang des Ladens herum, stieß mit dem Ellbogen gegen den oberen Teil des Suppenregals und stieß ein halbes Dutzend rote Kartons in den Mittelgang.
»Sue? Was ist denn?«
Sue beachtete ihn gar nicht. Sie sah zur Tür hinaus, preßte die zur Faust geballte Hand an die Lippen und riß die braunen Augen darüber auf. »O Gott, seht euch das viele Blut an!« schrie sie mit erstickter Stimme.
Ralph drehte sich noch weiter herum, stieß einige weitere Lipton-Kartons auf den Boden und sah zum schmutzigen Schaufenster des Red Apple hinaus. Was er sah, entlockte ihm einen tiefen Seufzer, und er brauchte einige Sekunden - fünf, möglicherweise -, bis er erkannte, daß es sich bei der blutenden, verprügelten Frau, die auf das Red Apple zutaumelte, um Helen Deepneau handelte. Ralph hatte Helen stets für die hübscheste Frau im westlichen Teil der Stadt gehalten, aber heute hatte sie nichts Hübsches an sich. Eines ihrer Augen war so geschwollen, daß sie es nicht mehr aufbekam; an der linken Schläfe hatte sie eine Platzwunde, die bald zwischen den purpurnen Schwellungen verschwinden würde; ihre gesprungenen Lippen und Wangen waren mit Blut bedeckt. Das Blut kam aus ihrer Nase, die immer noch triefte. Sie schwankte wie eine Betrunkene über den Parkplatz des Red Apple auf die Tür zu, aber ihr unversehrtes Auge schien nichts zu sehen; es starrte nur blicklos.
Aber noch beängstigender als ihr Aussehen war die Art, wie sie mit Natalie umging. Sie hatte das brüllende, verängstigte Baby beiläufig um eine Hüfte geschwungen und trug es, wie sie vor zwölf Jahren ihre Bücher zur High School getragen haben könnte.
»O Gott, sie wird das Kind fallenlassen!« schrie Sue, aber obwohl sie zehn Schritte näher bei der Tür war als er, bewegte sie sich nicht - sie blieb einfach stehen, wo sie war, preßte die Hände auf den Mund, und ihre Augen schienen das ganze Gesicht verschlingen zu wollen.