Plötzlich fühlte sich Ralph überhaupt nicht mehr müde. Er sprintete den Gang entlang, riß die Tür auf und lief nach draußen. Er kam gerade noch rechtzeitig, um Helen an den Schultern zu halten, als diese mit der Hüfte an die Kühltruhe stieß - glücklicherweise nicht die Hüfte, auf der Natalie ruhte und in eine andere Richtung weitertorkelte.
»Helen!« rief er. »Mein Gott, Helen, was ist denn passiert?«
»Hmh?« fragte sie mit dumpf neugieriger Stimme, die keine Ähnlichkeit mit der Stimme der munteren jungen Frau hatte, die ihn manchmal ins Kino begleitete und wegen Mel Gibson seufzte. Ihr gutes Auge drehte sich zu ihm, und er sah dieselbe dumpfe Neugier darin, ein Ausdruck, der zeigte, sie wußte nicht, wer sie war, geschweige denn, wo sie war oder was geschehen war, oder wann. »Hmh? Ral? Wa?«
Das Baby rutschte. Ralph ließ Helen los, griff nach Natalie und schaffte es, einen Träger ihrer Strampelhose zu fassen zu bekommen. Nat schrie, ruderte mit den Händen und sah ihn mit ihren großen, dunkelblauen Augen an. Er schob die andere Hand einen Augenblick bevor der Träger der Strampelhose riß, zwischen Nats Beine. Einen Moment lang balancierte das weinende Baby auf seiner Hand wie ein Turner auf dem Schwebebalken, und Ralph konnte den feuchten Wulst seiner Windeln durch den Overall spüren, den es trug. Dann schob er die andere Hand hinter seinen Rücken und drückte es an seine Brust. Sein Herz schlug heftig, und obwohl er das Baby nun sicher in Händen hielt, sah er es immer noch wegrutschen, sah den Kopf mit dem seidenweichen Haar mit einem ekelerregenden Knirschen auf den abfallübersäten Asphalt prallen.
»Hnh? Ar? Ral?« fragte Helen. Sie sah Natalie in Ralphs Armen, und da verschwand die Ausdruckslosigkeit teilweise aus ihrem guten Auge. Sie hob die Hände zu dem Kind, und in Ralphs Armen ahmte Natalie die Bewegung mit ihren eigenen Patschhändchen nach. Dann stolperte Helen, stieß gegen die Hauswand und torkelte einen Schritt zurück. Ein Fuß verfing sich im anderen (Ralph sah Blutspritzer auf ihren weißen Turnschuhen, und es war erstaunlich, wie hell auf einmal alles war; die Farbe war in die Welt zurückgekommen, zumindest vorübergehend), und sie wäre gestürzt, hätte Sue sich nicht in diesem Augenblick entschieden, auch endlich nach draußen zu kommen. Daher fiel Helen statt umzukippen einfach gegen die offene Tür und lehnte sich daran wie ein Betrunkener an einen Laternenpfahl.
»Ral?« Der Ausdruck in ihren Augen war jetzt ein wenig schärfer, und Ralph sah, daß es weniger Neugier als vielmehr Fassungslosigkeit war. Sie holte tief Luft und bemühte sich mit äußerster Anstrengung, verständliche Worte über die geschwollenen Lippen zu bringen. »Gi. Gi mi mein Bäh-bie. Gi mi Nah-lie.«
»Jetzt nicht, Helen«, sagte Ralph. »Im Augenblick bist du nicht sicher genug auf den Beinen.«
Sue stand immer noch auf der anderen Seite der Tür und stemmte sich dagegen, damit Helen nicht fiel. Wangen und Stirn des Mädchens waren aschfahl, Tränen standen in ihren Augen.
»Kommen Sie raus«, sagte Ralph. »Stützen Sie sie.«
»Ich kann nicht«, blubberte sie. »Sie ist ganz bluh-bluhblutig!«
»Um Himmels willen, hören Sie auf! Das ist Helen! Helen Deepneau, die hier in der Straße wohnt!«
Obwohl Sue das gewußt haben mußte, schien allein der Klang des Namens Wirkung zu zeigen. Sie kam um die offene Tür herum, und als Helen wieder rückwärts taumelte, legte Sue ihr einen Arm um die Schultern und stützte sie. Der Ausdruck ungläubiger Überraschung schwand nicht von Helens Gesicht. Ralph fiel es immer schwerer, sie anzusehen. Er fühlte sich durch und durch elend.
»Ralph? Was ist passiert? War das ein Unfall?«
Er drehte sich um und sah Bill McGovern am Rand des Parkplatzes stehen. Er trug eines seiner piekfeinen blauen Hemden, bei dem die Bügelfalten noch an den Ärmeln zu sehen waren, und hielt eine seiner seltsam zierlichen Hände mit den langen Fingern hoch, um die Augen abzuschirmen. So sah er merkwürdig und irgendwie nackt aus, aber Ralph hatte keine Zeit, über den Grund dafür nachzudenken; zuviel spielte sich hier ab.
»Es war kein Unfall«, sagte er. »Sie ist verprügelt worden. Hier, nimm das Kind.«
Er hielt Natalie zu McGovern hin, der zuerst zurückzuckte, dann aber das Baby nahm. Natalie fing sofort wieder an zu kreischen. McGovern, der aussah, als hätte ihm gerade jemand eine randvolle Kotztüte in die Hand gedrückt, hielt sie mit baumelnden Füßen auf Armeslänge von sich. Hinter ihm fand sich eine kleinere Menschenmenge ein, darunter zahlreiche Kinder in Baseballtrikots, die von ihrem nachmittäglichen Spiel auf dem Sportplatz um die Ecke zurückkamen. Sie betrachteten Helens geschwollenes und blutiges Gesicht mit einem ungesunden Interesse, und Ralph mußte an die Geschichte in der Bibel denken, wie sich Noah auf der Arche betrunken hatte
- an die guten Söhne, die sich von dem nackten alten Mann auf seinem Bett abgewendet hatten, und den böse Sohn, der hingesehen… und gelacht hatte.
Sanft schob er Sues Arm weg und seinen eigenen hin. Helens unversehrtes Auge drehte sich zu ihm. Diesmal sprach sie seinen Namen deutlicher aus, positiver, und als Ralph die Dankbarkeit in der nuschelnden Stimme hörte, war ihm zum Weinen zumute.
»Sue - nehmen Sie das Baby. Bill hat keine Ahnung.«
Sie gehorchte und nahm Nat sanft und geübt in die Arme. McGovern schenkte ihr ein dankbares Lächeln, und plötzlich merkte Ralph, was an seinem Äußeren nicht stimmte. McGovern trug seinen Panamahut nicht, der ebenso zu ihm zu gehören schien (jedenfalls im Sommer) wie die Geschwulst auf seinem Nasenansatz.
»He, Mister, was ist denn passiert?« fragte einer der Baseballjungs.
»Nichts, das dich etwas angehen würde«, sagte Ralph.
»Sieht aus, als hätte sie ein paar Runden mit Riddick Bowe hinter sich.«
»Nee, Tyson«, sagte einer der anderen Baseballjungs, und dann lachten sie unvorstellbarerweise.
»Verschwindet!« schrie Ralph sie plötzlich wütend an. »Geht eure Zeitungen austragen! Kümmert euch um eure Angelegenheiten!«
Sie schlurften ein paar Schritte zurück, aber keiner entfernte sich. Immerhin sahen sie echtes Blut hier, und nicht auf einer Kinoleinwand.
»Helen, kannst du gehen?«
»Ja«, sagte sie. »Glaube son.«
Er führte sie vorsichtig um die offene Tür herum und ins Red Apple. Sie bewegte sich langsam und schlurfte von einem Fuß auf den anderen wie eine alte Frau. Der Geruch von Schweiß und verbrauchtem Adrenalin drang als saurer Gestank aus ihren Poren, und Ralph spürte, wie sich ihm wieder der Magen umdrehte. Es lag nicht an dem Geruch, wirklich nicht; es lag an seinem Bemühen, diese Helen mit der adretten und attraktiven Frau in Einklang zu bringen, mit der er erst gestern gesprochen hatte, als sie in ihrem Vorgarten gearbeitet hatte._
Plötzlich fiel Ralph noch etwas von gestern ein. Helen hatte blaue Shorts getragen, ziemlich weit oben abgeschnitten, und da waren ihm zwei Blutergüsse an ihren Beinen aufgefallen ein großer, gelber Fleck oben am linken Oberschenkel und ein frischerer, dunkler an der rechten Wade.
Er ging mit Helen auf den kleinen Bürobereich hinter der Registrierkasse zu. Als er in den konvexen Überwachungsspiegel in der Ecke sah, erblickte er McGovern, der Sue die Tür aufhielt.
»Schließ die Tür ab«, sagte er über die Schulter.
»Herrgott, Ralph, ich darf nicht…«
»Nur ein paar Minuten«, sagte Ralph. »Bitte.«
»Nun… okay. Denke ich.«
Ralph hörte das Klicken des Schlosses, als er Helen auf den Plastiksessel hinter dem unordentlichen Schreibtisch sinken ließ. Er griff zum Telefon und schlug auf die Taste 911. Aber bevor das Telefon am anderen Ende läuten konnte, wurde eine blutige Hand ausgestreckt und drückte auf den grauen Unterbrechungsknopf.
»Gicht… Ral.« Helen schluckte gequält und versuchte es noch einmal. »Nicht.«
»Doch«, sagte Ralph. »Ich werde anrufen.«
Jetzt sah er Angst in ihrem guten Auge, das nichts Stumpfes mehr an sich hatte.