Zu spät, dachte er, befolgte ihren Rat aber trotzdem, stützte die Füße auf das schräg geneigte Armaturenbrett und stieß sich so fest er konnte ab. Er spürte, wie Lois mit ihm durch den Schacht der Existenz emporstieg, während die Cherokee die letzten dreißig Meter zwischen sich und dem Boden zurücklegte, und als sie in die Höhe schössen, spürte er, wie sich eine plötzliche Ladung der Energie von Lois um ihn legte und ihn zurückriß wie ein Bungeeseil. Er erlebte kurz das ekelerregende Gefühl, als würde er in zwei Richtungen gleichzeitig fliegen.
Ralph konnte einen letzten Blick auf Ed Deepneau werfen, der an der Seitenwand des Cockpits lehnte, aber in einem sehr realen Sinne sah er ihn überhaupt nicht. Die gelb-graue Aura der Verwirrung war verschwunden. Ed war ebenfalls verschwunden. Er steckte in einem Leichentuch, so schwarz wie die Mitternacht in der Hölle.
Dann fielen und flogen er und Lois zugleich.
Kapitel 30
Kurz bevor es zu der Explosion kam, sagte Susan Day, die im grellen weißen Scheinwerferlicht stand und die letzten Sekunden ihres provokativen Lebens erlebte, gerade: »Ich bin nicht nach Derry gekommen, um Sie zu heilen, Sie herumzukommandieren oder aufzuhetzen, sondern, um mit Ihnen zu trauern - dies ist eine Situation, die weit über politische Erwägungen hinausgeht. Es gibt kein Recht auf Gewalt, keine Zuflucht in Selbstgefälligkeit. Ich bin hier, um Sie zu bitten, daß Sie Ihren Standpunkt und Ihre Rhetorik beiseite lassen und eine Möglichkeit finden, einander zu helfen. Sich von der Faszination abzuwenden -«
Hinter den hohen Fenstern an der Südseite des Auditoriums erstrahlte plötzlich ein grelles weißes Licht, dann barsten sie nach innen.
Die Cherokee verfehlte Ralphs alten Olds, aber das rettete ihn nicht. Das Flugzeug machte noch einmal eine halbe Drehung in der Luft, dann bohrte es sich etwa acht Meter von dem Zaun entfernt in den Boden, wo Lois früher an diesem Tag stehengeblieben war, um ihren nervtötenden Slip in die Höhe zu ziehen. Die Tragflächen brachen ab. Das Cockpit unternahm eine schnelle und brutale Reise durch die Passagierkabine. Der Rumpf explodierte mit der Wucht einer Champagnerflasche im Mikrowellenherd. Scherben flogen durch die Luft. Das Heck bog sich über den Rumpf der Cherokee wie der Stachel eines sterbenden Skorpions und bohrte sich ins Dach eines Dodge, auf dessen Seite SCHÜTZT DAS RECHT DER FRAUEN AUF FREIE ENTSCHEIDUNG! gemalt worden war. Ein helles und bitteres Scheppern erklang, das sich anhörte, als wäre ein Stapel Alteisen umgestürzt.
»Ach du Schei -«, begann einer der auf dem Parkplatz postierten Polizisten, dann flog das C4 aus der Pappschachtel heraus wie ein großer grauer Schleimklumpen und landete auf den Trümmern des Armaturenbretts, wo sich mehrere »heiße« Kabel hineinbohrten wie die Nadeln von Spritzen. Der Plastiksprengstoff explodierte mit einem gewaltigen, ohrenbetäubenden Knall, röstete die Rennbahn und verwandelte den Parkplatz in einen Wirbelsturm von weißem Licht und herumfliegenden Trümmern. John Leydecker, der unter dem Baldachin des Bürgerzentrums gestanden und sich mit einem Cop der Staatspolizei unterhalten hatte, wurde durch eine der offenen Türen und quer durch die Halle geschleudert. Er prallte gegen die Wand und sackte bewußtlos auf den Scherbenhaufen des Glaskastens mit den Renntrophäen. Damit hatte er mehr Glück als der Mann, neben dem er gestanden hatte; der Staatspolizist wurde gegen die Strebe zwischen zwei offenen Türen gedrückt und in der Mitte entzweigerissen.
Die Reihen der Autos schirmten das Bürgerzentrum vor der schlimmsten Wucht der Explosion ab, aber diese glückliche Fügung erkannte man erst später. Drinnen saßen über viertausend Menschen zuerst wie vom Donner gerührt und wußten nicht, was sie tun sollten, und noch weniger, was sie gerade gesehen hatten: Amerikas prominenteste Feministin, die von einer herumfliegenden scharfen Glasscherbe geköpft worden war. Ihr Kopf flog wie eine seltsame weiße Bowlingkugel mit angeklebter blonder Perücke bis in die sechste Reihe.
Sie brachen erst in Panik aus, als das Licht ausging.
Einundsiebzig Menschen starben bei der überstürzten Flucht zu den Ausgängen, und die Derry News berichtete am nächsten Tag unter einer furchteinflößenden Riesen-Schlagzeile davon und bezeichnete es als schreckliche Tragödie. Ralph Roberts hätte ihnen sagen können, daß sie unter Berücksichtigung aller Umstände Glück gehabt hatten. Wirklich großes Glück.
In der Mitte des Nordbalkons saß eine Frau namens Sonia Danville - eine Frau, auf deren Wangen noch die Blutergüsse der letzten Prügel verblaßten, die sie je von einem Mann bekommen hatte - und hatte die Arme um die Schultern ihres Sohns Patrick gelegt. Sein Poster von McDonald’s, auf dem Ronald und Mayor Cheese und der Hamburglar vor dem Fenster des Autoschalters den Boot-Scootin’ Boogie tanzten, hatte er auf dem Schoß ilegen, aber er hatte gerade erst die goldenen Bögen ausgemalt, als er das Poster auf die leere Seite umdrehte. Nicht, daß er das Interesse verloren hätte; ihm war gerade nur selbst ein Bild eingefallen, und das überkam ihn, wie es bei solchen Hinfallen häufig der Fall war, mit zwanghafter Wucht. Er hatte fast den ganzen Tag darüber nachgedacht, was im Keller von High Ridge geschehen war -der Rauch, die Hitze, die ängstlichen Frauen und die beiden Engel, die gekommen waren, um sie zu retten -, aber sein grandioser Einfall verdrängte diese Gedanken, und er machte sich von stummem Enthusiasmus beseelt an die Arbeit. Bald war Patrick in etwa zumute, als würde er selbst in der Welt leben, die er mit seinen Wachsmalstiften malte.
Er war ungeachtet seiner vier Jahre bereits ein außerordentlich fähiger Maler (»Mein kleines Genie«, nannte ihn Sonia manchmal), und sein Bild war viel besser als das Poster zum Ausmalen auf der anderen Seite des Blatts. Was er in den Minuten zustande brachte, bevor das Licht ausging, war eine Arbeit, auf die ein begabter Kunststudent im ersten Semester stolz hätte sein können. In der Mitte des Posters ragte ein Turm aus dunklen, rußfarbenen Steinen in einen blauen Himmel mit vereinzelten dicken weißen Wolken auf. Ringsum lag ein Feld mit so roten Rosen, daß sie fast zu schreien schienen. Auf einer Seite stand ein Mann in verblichenen Blue Jeans. Revolvergurte überkreuzten sich auf seinem flachen Bauch; an jeder Hüfte hing ein Halfter. Ganz oben auf dem Turm sah ein Mann im roten Gewand mit einer Mischung aus Haß und Angst auf den Revolverhelden herunter. Seine Hände, die er um die Brüstung geklammert hatte, schienen ebenfalls rot zu sein.
Sonia war wie gebannt von Susan Day, die hinter dem Rednerpult saß und ihrer Einführungsrede zuhörte, aber sie sah kurz vor dem Ende der Rede auch auf das Bild ihres Sohnes. Sie wußte seit zwei Jahren, daß Patrick das war, was Psychologen ein Wunderkind nannten, und sie redete sich manchmal ein, daß sie sich an die komplexen Bilder und Play-Doh-Skulpturen gBwöhnt hatte, die er seine Knetfamilie nannte. Vielleicht stimmte das bis zu einem gewissen Grad, aber dieses spezielle Bild erfüllt sie mit einem seltsamen Frösteln, das sie nicht völlig als emotionale Auswirkung des langen, aufregenden Tags abtun konnte.
»Wer ist das?« fragte sie und deutete auf die winzige Gestalt, die eifersüchtig vom Gipfel des dunklen Turms herabsah.
»Der ist der Rote König«, sagte Patrick.
»Oh, der Rote König. Ich verstehe. Und wer ist der Mann mit den Revolvern?«
Als er den Mund aufmachte, um zu antworten, hob Barbara Richards, die Frau am Rednerpult, den rechten Arm (sie trug einen schwarzen Trauerflor daran) und deutete auf die Frau, die hinter ihr saß. »Meine Freunde, Ms. Susan Day!« rief sie, und Patricks Antwort auf die zweite Frage seiner Mutter ging im donnernden Beifall unter:
Der heißt Roland, Mama. Manchmal träume ich von ihm. Der ist auch ein König.
Jetzt saßen die beiden mit klingelnden Ohren in der Dunkelheit, und zwei Gedanken gingen Sonia durch den Kopf wie Ratten, die einander in einem Laufrad jagen: Nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wußte, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wußte, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag -