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»Mommy, du zerdrückst mein Bild!« sagte Patrick. Er klang ein wenig atemlos, und Sonia wurde bewußt, daß sie auch ihn zerdrückte. Sie lockerte ihren Griff ein wenig. Ein zusammenhangloses Durcheinander von Schreien, Rufen und stammelnden Fragen drang aus der dunklen Grube unter ihnen herauf, wo die Leute, die reich genug waren, daß sie sich eine »Spende« von fünfzehn Dollar leisten konnte, auf Klappstühlen saßen. Ein durchdringender Schmerzensschrei übertönte das allgemeine Murmeln, und Sonia zuckte auf dem Sitz zusammen.

Der donnernde Knall unmittelbar nach der Explosion hatte schmerzhaft auf ihre Ohren gedrückt und das Gebäude in seinen Grundmauern erschüttert. Verglichen damit hörte sich der fortwährende Lärm - Autos, die auf dem Parkplatz wie Kracher explodierten -, leise und unbedeutend an, aber Sonia spürte dennoch, wie Patrick sich bei jedem neuen Knall an sie drückte.

»Ganz ruhig, Pat«, sagte sie zu ihm. »Etwas Schlimmes ist geschehen, aber ich glaube, es ist draußen passiert.« Da sie zu den grell erleuchteten Fenstern gesehen hatte, hatte Sonia barmherzigerweise nicht mitbekommen, wie der Heldin der Kopf von den Schultern getrennt worden war, aber sie wußte, daß der Blitz irgendwie tatsächlich zweimal an derselben Stelle eingeschlagen hatte (hätte ihn nicht mitnehmen sollen, hätte ihn nicht mitnehmen sollen) und zumindest ein Teil der Leute unter ihnen in Panik ausgebrochen war. Wenn sie in Panik geriete, würden sie und der junge Rembrandt ernste Probleme bekommen.

Aber das werde ich nicht. Ich bin heute morgen nicht aus dieser Todesfalle entkommen, nur um jetzt in Panik zu geraten. Der Teufel soll mich holen, wenn ich das tue.

Sie griff nach unten und nahm eine von Patricks Händen - die freie, nicht die, mit der er das Bild hielt. Sie war sehr kalt.

»Glaubst du, die Engel werden wiederkommen und uns retten, Mama?« fragte er mit leicht zitternder Stimme.

»Nee«, sagte sie. »Ich glaube, diesmal sollten wir es selbst tun. Aber das können wir. Ich meine, jetzt ist doch alles in Ordnung mit uns, oder nicht?«

»Ja«, sagte er, aber dann ließ er sich gegen sie sinken. Sie hatte einen schrecklichen Augenblick Angst, er hätte das Bewußtsein verloren und sie würde ihn auf den Armen aus dem Bürgerzentrum hinaustragen müssen, aber dann richtete er sich wieder auf. »Meine Bücher war’n auf dem Boden«, sagte er. »Ich wollte nicht ohne meine Bücher gehen, besonders das über den Jungen, der seinen Hut nicht abnehmen kann. Gehen wir jetzt, Mama?«

»Ja. Sobald die Leute da unten nicht mehr herumlaufen. Auf dem Flur gibt es bestimmt Lichter, die mit Batterien laufen, auch wenn sie hier drinnen ausgefallen sind. Wenn ich sage, wir stehen auf, dann gehen - gehen! - wir die Stufen hinauf zur Tür. Ich werde dich nicht tragen, aber ich werde direkt hinter dir gehen und dir beide Hände auf die Schultern legen. Hast du verstanden, Pat?«

»Ja, Mama.« Keine Fragen. Kein Blubbern. Nur seine Bücher, die er ihr zur sicheren Verwahrung in die Hände drückte. Das Bild behielt er selbst. Sie umarmte ihn kurz und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

Sie warteten etwa fünf Minuten auf dem Sitz, während sie langsam bis dreihundert zählte. Sie spürte, daß ihre unmittelbaren Nachbarn gegangen waren, bevor sie hundertfünfzig erreicht hatte, aber sie wartete trotzdem. Jetzt konnte sie ein wenig sehen; soviel, daß sie glaubte, draußen müsse etwas lichterloh in Flammen stehen, aber auf der anderen Seite des Gebäudes. Das war ein Glück. Sie konnte das irre Heulen von näherkommenden Polizeiautos, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeugen hören.

Sonia stand auf. »Komm. Bleib dicht vor mir.«

Pat Danville trat auf den Gang, wo ihm seine Mutter die Hände auf die Schultern drückte. Er führte sie die Stufen hinauf zu den mattgelben Lichtern, die den Korridor des nördlichen Balkons erhellten, und blieb nur einmal stehen, als der dunkle Umriß eines laufenden Mannes auf se zugeschnellt kam. Die Hände seiner Mutter packten seine Schultern fester, als sie ihn zur Seite riß -

»Gottverdammte Abtreibungsgegner!« schrie der laufende Mann. »Elende selbstgefällige Scheißer! Am liebsten würde ich sie alle umbringen!«

Dann war er fort, und Pat ging weiter die Stufen hinauf. Sie spürte jetzt eine Ruhe in ihm, eine Besonnenheit ohne eine Spur von Angst, die ihr Herz mit Liebe erfüllte und mit einer sonderbaren Art von Dunkelheit. Er war so anders, ihr Sohn, so etwas Besonderes… aber die Welt liebte solche Menschen nicht. Die Welt versuchte, sie auszurotten, wie Unkraut im Garten.

Schließlich traten sie in den Korridor hinaus. Ein paar Leute in tiefem Schock wanderten mit benommenen Blicken und offenen Mündern hin und her wie Zombies in einem Horror Film. Sonia beachtete sie kaum, sie schob Pat einfach weiter Richtung Treppe. Drei Minuten später standen sie völlig unversehrt in der lodernden Nacht vor dem Gebäude, und in sämtlichen Ebenen des Universums setzten Plan und Zufall ihren vorherbestimmten Kurs fort. Welten, die einen Augenblick auf ihren Bahnen erbebt waren, wurden wieder stabil, und auf einer dieser Welten, in einer Wüste, die der Inbegriff aller Wüsten war, drehte sich ein Mann namens Roland in seinem Schlafsack um und schlief wieder ruhig unter den fremdartigen Sternbildern.

Auf der anderen Seite der Stadt, im Strawford Park, flog die Tür des Port-O-San mit der Aufschrift MÄNNER auf. Lois Chasse und Ralph Roberts wurden rückwärts inmitten einer Rauchwolke herausgeschleudert und hielten einander fest. Aus dem Port-O-San ertönte das Geräusch der abstürzenden Cherokee und dann die Explosion des Plastiksprengstoffs. Ein weißer Lichtblitz war zu sehen, und die blauen Wände der Toilette wölbten sich nach außen, als hätte ein Riese mit der Faust dagegengeschlagen. Eine Sekunde später hörten sie die Explosion noch einmal; diesmal, als sie durch die Luft zu ihnen herübergetragen wurde. Die zweite Version war leiser, aber irgendwie realer.

Lois stolperte und fiel mit einem Schrei, der teilweise Erleichterung ausdrückte, auf dem Hügel ins Gras. Ralph landete neben ihr, richtete sich aber gleich in eine sitzende Haltung auf. Er sah ungläubig zum Bürgerzentrum, wo sich eine Faust aus Feuer am Horizont ballte. Eine purpurne Schwellung, so groß wie ein Türknauf, wuchs mitten auf Ralphs Stirn, wo Ed ihn geschlagen hatte. Seine linke Seite pochte immer noch, aber er dachte, daß die Rippen wahrscheinlich nur angeknackst waren, nicht gebrochen.

[»Lois, alles in Ordnung?«]

Sie sah ihn einen Augenblick verständnislos an, dann tastete sie Gesicht, Hals und Schultern ab. Diese Untersuchung paßte so süß und perfekt zu »unserer Lois«, daß Ralph lachen mußte. Er konnte nicht anders. Lois lächelte zögernd zurück.

[»Ich denke, es ist alles in Ordnung. Ich bin sogar ziemlich sicher.«]

[»Was hattest du dort zu suchen? Du hättest getötet werden können.«]

Lois, die wieder etwas verjüngt aussah (Ralph vermutete, daß der rechtzeitig erschienene Penner etwas damit zu tun hatte), sah ihm in die Augen.

[»Vielleicht bin ich altmodisch, Ralph, aber wenn du denkst, daß ich die nächsten zwanzig Jahre oder so damit verbringe, in Ohnmacht zufallen oder zu bibbern wie die beste Freundin der Heldin in diesen Liebesromanen, die meine Freundin Mina immer liest, dann solltest du dir besser eine andere Frau suchen, mit der du herumziehst.«]

Er sperrte einen Moment den Mund auf, dann zog er sie auf die Füße und umarmte sie. Lois erwiderte die Umarmung. Sie war unglaublich warm, unglaublich präsent. Ralph mußte kurz an die Ähnlichkeiten zwischen Einsamkeit und Schlaflosigkeit denken - beide heimtückisch, kumulativ und trennend, Freunde der Verzweiflung und Erzfeinde der Liebe -, und dann verdrängte er diese Gedanken und küßte sie.

Klotho und Lachesis, die auf dem Hügel standen und so ängstlich aussahen wie Arbeiter, die ihr ganzes Weihnachtsgeld beim Boxen auf einen Außenseiter gesetzt haben, kamen zu Ralph und Lois geeilt, die wieder einmal Stirn an Stirn standen und einander in die Augen sahen wie verliebte Teenager. Auf der anderen Seite der Barrens schwoll der Lärm von Sirenen an wie Stimmen in unruhigen Träumen. Die Feuersäule über dem Grab von Ed Deepneaus Besessenheit war jetzt so grell, daß man sie nicht mehr ansehen konnte, ohne die Augen etwas zuzukneifen. Ralph konnte das leise Knallen explodierender Autos hören. Eines davon war zweifellos seines. Er beschloß, daß ihm das nichts ausmachte. Er wurde wirklich zu alt zum Fahren.