[Seine Energie ist während dieser Zeremonie fast völlig ungebremst. Ich habe sie gespürt! Es war herrlich!]
Klotho streckte Ralph seine Hand zentimeterweise entgegen, und in dem Augenblick, bevor sie sich berührten, schloß er die Augen wie ein Mann, der mit einer schmerzhaften Injektion rechnet. Derweil schüttelte Lachesis Lois die Hand und grinste dabei wie ein Vaudevilletänzer bei der Zugabe.
Klotho schien sich zu wappnen, dann ergriff er Ralphs Hand. Er schüttelte sie einmal fest. Ralph grinste.
[»Nehmen Sie sie sanft, Mr. K.«]
Klotho zog die Hand zurück. Er schien nach der richtigen Antwort zu suchen.
[Danke, Ralph. Ich nehm sie, wie ich sie kriegen kann. Korrekt?]
Ralph prustete vor Lachen. Klotho, der sich zu Lois umdrehte, betrachtete ihn mit einem verwirrten Lächeln, und Ralph schlug ihm auf den Rücken.
[»Da haben Sie recht, Mr. K. -völlig recht.«]
Er legte einen Arm um Lois und warf den kleinen kahlköpfigen Ärzten einen letzten neugierigen Blick zu.
[»Ich werde euch Burschen wiedersehen, nicht wahr?«]
Klotho: [Ja, Ralph.]
Ralph: [»Nun, das macht nichts. In etwa siebzig Jahren wäre mir recht; warum schreibt ihr euch das nicht gleich in euren Kalender?«]
Sie reagierten mit dem Lächeln von Politikern, was ihn nicht besonders überraschte. Ralph machte eine knappe Verbeugung, dann legte er einen Arm um Lois’ Schultern und sah Mr. K. und Mr. L. nach, wie sie langsam den Hügel hinuntergingen. Lachesis machte die Tür des leicht verbogenen PortO-San mit der Aufschrift MÄNNER auf; Klotho stand in der offenen Tür der Kabine für FRAUEN. Lachesis lächelte und winkte. Klotho hob die Schere mit den langen Schneiden zu einer Art seltsamem Salut.
Ralph und Lois winkten zurück.
Die kahlköpfigen Ärzte gingen hinein und machten die Türen zu.
Lois wischte sich die feuchten Augen ab und drehte sich zu Ralph um.
[»Das war’s, richtig? Ist es nicht so?«]
Ralph nickte.
[»Was machen wir jetzt?«]
Er hielt ihr den Arm hin.
[»Darf ich Sie nach Hause bringen, Madam?«]
Sie ergriff lächelnd seinen Unterarm dicht unter dem Ellbogen. [»Danke, Sir. Sie dürfen.«]
So verließen sie den Strawford Park, und als sie auf die Harris Avenue kamen, kehrten sie auf die Ebene der Kurzfristigen zurück, nahmen ihren normalen Platz im Lauf der Dinge ein, ohne Aufhebens darum zu machen, tatsächlich ohne es zu bemerken, bis es geschehen war.
Derry stöhnte vor Panik und schwitzte vor ungesunder Aufregung. Sirenen heulten, Leute unterhielten sich rufend von Baikonen im ersten Stock mit Freunden auf dem Bürgersteig, und an jeder Straßenecke hatten sich Menschentrauben versammelt, die zu dem Feuer auf der anderen Seite des Tals sahen.
Ralph und Lois beachteten den Tumult und das Durcheinander gar nicht. Sie gingen langsam den Up-Mile-Hill hinauf und spürten in zunehmendem Maße ihre Erschöpfung; sie schien sich über ihnen aufzutürmen wie behutsam geworfene Sandsäcke. Der weiße Lichtfleck, der den Parkplatz des Red Apple kennzeichnete, schien unerreichbar weit entfernt zu sein, obwohl Ralph wußte, es handelte sich nur um drei Blocks, und kurze obendrein.
Um die Sache noch schlimmer zu machen: Die Temperatur war seit heute morgen um gut zehn Grad gefallen, der Wind wehte heftig, und sie waren beide nicht für dieses Wetter angezogen. Ralph vermutete, daß dies die Vorhut des ersten großen Herbststurms sein könnte und der Altweibersommer in Derry vorbei war.
Faye Chapin, Don Veazie und Stan Eberly kamen den Hügel herunter auf sie zugelaufen; sie wollten offensichtlich zum Strawford Park. Das Fernglas, mit dem der alte Dor manchmal den Flugzeugen auf der Rollbahn beim Starten, Rollen oder Landen zusah, baumelte um Fayes Hals. Mit dem fast kahlen und vierschrötigen Don in der Mitte war ihre Ähnlichkeit mit einem berühmteren Trio unübersehbar. Die drei Stooges der Apokalypse, dachte Ralph und grinste.
»Ralph!« rief Faye aus. Er atmete schnell, fast keuchend. Der Wind wehte ihm das Haar in die Augen, und er strich es ungeduldig zurück. »Das gottverdammte Bürgerzentrum ist in die Luft geflogen! Jemand hat es aus einem Kleinflugzeug bombardiert! Wir haben gehört, daß es tausend Tote gegeben hat!«
»Dasselbe habe ich auch gehört«, stimmte Ralph ernst zu. »Lois und ich sind gerade unten im Park gewesen, um nachzusehen. Von dort kann man direkt über das Tal sehen, wißt ihr.«
»Herrgott, ich weiß das, ich habe mein ganzes verdammtes Leben hier verbracht, oder etwa nicht? Wo wollt ihr denn hin? Kommt mit uns zurück!«
»Lois und ich wollten gerade zu ihr und sehen, ob sie was im Fernsehen darüber bringen. Vielleicht kommen wir später noch.«
»Okay, wir - ach du dicker Vater, Ralph, was ist denn mit deinem Kopf passiert?«
Einen Augenblick war Ralph ratlos - was war denn mit seinem Kopf passiert? -, doch dann sah er als alptraumhafte Erinnerung Eds fauchenden Mund und irre Augen. O nein, nicht, hatte Ed geschrien. Du verdirbst alles.
»Wir sind gelaufen, damit wir besser sehen können, und Ralph ist gegen einen Baum gerannt«, sagte Lois. »Er kann von Glück sagen, daß er nicht im Krankenhaus liegt.«
Don lachte darüber, aber er war nicht ganz bei der Sache, wie jemand, der sich um wichtigere Dinge kümmern muß. Faye beachtete sie überhaupt nicht. Stan Eberly dagegen schon, und Stan lachte nicht. Er sah sie verwirrt und neugierig an.
»Lois«, sagte er.
»Was?«
»Weißt du, daß du einen Turnschuh ans Handgelenk gebunden hast?«
Sie sah nach unten. Ralph sah ebenfalls nach unten. Dann schaute Lois mit einem strahlenden Lächeln wieder Stan an. »Ja!« sagte sie. »Eine interessante Mode, nicht wahr? Eine Art… lebensgroßes Glücksarmband!«
»Ja«, sagte Stan. »Klar.« Aber er sah nicht mehr den Turnschuh an, sondern Lois’ Gesicht. Ralph fragte sich, wie sie morgen ihr Aussehen erklären sollten, wenn sie sich nicht im Schatten zwischen den Straßenlampen verstecken konnten.
»Kommt schon!« rief Faye ungeduldig. »Gehen wir!«
Sie setzten sich in Bewegung (Stan warf ihnen dabei einen letzten zweifelnden Blick über die Schulter zu). Ralph horchte hinter ihnen her und rechnete fast damit, daß Don Veazie ein gespieltes Kicher-kicher von sich geben würde.
»Mann, das hat sich so dumm angehört«, sagte Lois, »aber irgendwas mußte ich doch sagen, oder?«
»Hast du prima gemacht.«
»Nun, wenn ich den Mund aufmache, scheint immer irgendwas herauszufallen«, sagte sie. »Das ist eins meiner großen Talente, das andere ist, daß ich eine ganze Packung Whitman’s Sampler während eines zweistündigen Fernsehfilms verputzen kann.« Sie band die Schnürsenkel von Helens Turnschuh auf und sah ihn an. »Sie ist in Sicherheit, richtig?«
»Ja«, stimmte Ralph zu und griff nach dem Turnschuh. Dabei stellte er fest, daß er bereits etwas in der Hand hatte. Er hatte die Finger so lange darum gekrümmt, daß sie sich kaum öffnen wollten. Als es ihm schließlich doch gelang, sah er die Abdrücke der Nägel im Fleisch der Handfläche. Als erstes bemerkte er, daß sein eigener Ehering noch an der gewohnten Stelle steckte, der von Ed aber fehlte. Er hatte zwar allen Anschein nach gepaßt wie angegossen, aber offenbar war er ihm in der letzten halben Stunde doch vom Finger gerutscht.
Vielleicht nicht, flüsterte eine Stimme, und Ralph nahm amüsiert zur Kenntnis, daß es diesmal nicht die von Carolyn war.
Diesmal gehörte die Stimme in seinem Kopf Bill McGovern. Vielleicht ist er einfach verschwunden. Du weißt schon, puff.
Aber irgendwie glaubte er das nicht. Er hatte den Verdacht, als wäre Eds Ehering mit Kräften ausgestattet gewesen, die nach Eds Tod nicht notwendigerweise verschwunden waren. Der Ring, den Bilbo Beutlin gefunden und widerwillig seinem Enkel Frodo übergeben hatte, hatte die Eigenheit gehabt, hinzugehen, wohin er wollte… und wann. Vielleicht war das bei Eds Ring nicht viel anders.
Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, tauschte Lois Helens Turnschuh gegen das Ding in seiner Hand ein: einen kleinen, zusammengeknüllten Zettel. Sie strich ihn glatt und sah ihn an, und dabei verwandelte sich ihre Neugier langsam in Ernst.