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»Ich erinnere mich an das Bild«, sagte sie. »Die Vergrößerung stand in einem teuren Goldrahmen auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Es hatte einen Ehrenplatz.«

Ralph nickte. »Das muß dasjenige gewesen sein, das er in der Brieftasche hatte. Es war am Armaturenbrett des Flugzeugs festgeklebt. Bis ich es genommen habe, hat er mich geschlagen und ist dabei nicht einmal ins Schwitzen gekommen. Mir fiel nichts anderes ein, als das Bild zu nehmen. Als ich das getan hatte, interessierte ihn das Bürgerzentrum nicht mehr. Das Letzte, das ich ihn sagen hörte, war: >Gib sie zurück, sie gehören mir. <«

»Hat er mit dir gesprochen, als er das gesagt hat?«

Ralph steckte den Turnschuh in die Gesäßtasche und schüttelte den Kopf. »Nee. Das glaube ich nicht.«

»Helen war heute abend im Bürgerzentrum, nicht?«

»Ja.« Ralph dachte daran, wie sie in High Ridge ausgesehen hatte - ihr blasses Gesicht, die tränenden, vom Rauch geröteten Augen. Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen, hatte sie gesagt. Begreifst du das nicht?

Jetzt begriff er es.

Er nahm Lois das Bild aus der Hand, zerknüllte es wieder und ging zum Papierkorb an der Ecke Harris Avenue und Kossuth Lane. »Wir werden irgendwann ein anderes Bild von ihnen bekommen, das wir auf unseren eigenen Kaminsims stellen können. Eins, das nicht ganz so förmlich ist. Aber das hier… das will ich nicht.«

Er warf die kleine Papierkugel in den Mülleimer, ein einfacher Wurf, höchstens zehn Zentimeter, aber genau in diesem Moment nahm der Wind zu, und das zerknüllte Foto von Helen und Natalie, das über dem Höhenmesser von Eds Flugzeug geklebt hatte, flog auf seinem kalten Atem davon. Die beiden sahen ihm fast hypnotisiert nach, wie es zum Himmel hinaufwirbelte. Lois wandte den Blick als erste ab. Als sie Ralph ansah, umspielte der Hauch eines Lächelns ihre Lippen.

»Habe ich da einen versteckten Heiratsantrag gehört, oder bin ich nur müde?« fragte sie.

Er machte den Mund auf, um zu antworten, als eine zweite Windbö aufkam, diesmal so stark, daß sie beide zusammenzuckten und die Augen schlössen. Als er sie wieder aufmachte, war Lois schon ein Stück bergauf gegangen.

»Alles ist möglich, Lois«, sagte er mit leiser Stimme, nur zu sich selbst. »Das weiß ich jetzt.«

Fünf Minuten später klirrte Lois’ Schlüssel im Schloß ihrer Eingangstür. Sie ließ Ralph ein, machte fest hinter ihnen zu und sperrte die windige, zänkische Nacht aus. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und wäre dort geblieben, aber Lois zögerte nicht. Sie hielt immer noch seine Hand, zog ihn jedoch nicht (hätte es aber möglicherweise getan, sollte er zaudern), und führte ihn in ihr Schlafzimmer.

Er sah sie an. Lois erwiderte seinen Blick gelassen… und plötzlich spürte er dieses Blinzeln wieder. Er sah ihre Aura erblühen wie eine graue Rose. Sie war noch geschwächt, kam aber bereits wieder zurück, fügte sich zusammen, heilte sich selbst.

[»Lois, bist du sicher, daß du es willst?«]

[»Selbstverständlich! Glaubst du, nach allem, was wir durchgemacht haben, würde ich dir einen Klaps auf den Kopf geben und dich nach Hause schicken?«]

Plötzlich lächelte sie - ein verschmitztes, schalkhaftes Lächeln.

[»Abgesehen davon, Ralph - ist dir heute nacht wirklich danach zumute? Sei ehrlich! Noch besser, versuch nicht, mir zu schmeicheln.«]

Er dachte darüber nach, dann lachte er und zog sie in die Arme. Ihr Mund war süß und feucht, wie die Haut eines reifen Pfirsichs. Der Kuß schien durch seinen ganzen Körper zu kribbeln, aber das Gefühl konzentrierte sich hauptsächlich auf den Mund, wo es sich fast wie ein elektrischer Schock anfühlte. Als sie die Lippen lösten, fühlt er sich erregter denn je… aber auch seltsam ausgelaugt.

[»Und wenn ich jetzt ja sage, Lois? Wenn ich jetzt sage, daß mir danach zumute ist?«]

Sie wich zurück und sah ihn kritisch an, als wollte sie entscheiden, ob er es ernst meinte, oder ob es sich nur um die übliche männliche Großspurigkeit handelte. Gleichzeitig griff sie nach den Knöpfen ihres Kleids. Als sie sie öffnete, fiel Ralph etwas Wunderbares auf: Sie sah wieder jünger aus. Keinesfalls wie Vierzig, aber sicher nicht älter als Fünfzig… eine junge Fünfzigjährige. Daran war selbstverständlich der Kuß schuld, und das wahrhaft Amüsante war, sie hatte wahrscheinlich keine Ahnung, daß sie zu ihrer früheren Portion Penner nun noch eine kräftige Portion Ralph bekommen hatte. Und was wäre daran falsch gewesen?

Sie beendete ihre Untersuchung, beugte sich nach vorne und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

[»Ich glaube, wir werden später noch eine Menge Zeit dafür haben, Ralph - die heutige Nacht ist zum Schlafen da.«]

Er nahm an, daß sie recht hatte. Vor fünf Minuten war er mehr als bereit gewesen - die körperliche Liebe hatte ihm immer Spaß gemacht, und es war lange her. Aber im Augenblick war der Funke erloschen. Ralph bedauerte es nicht im geringsten. Schließlich wußte er, wohin er übergesprungen war.

[»Okay, Lois - die heutige Nacht ist zum Schlafen da.«]

Sie ging ins Bad, und die Dusche wurde aufgedreht. Ein paar Minuten später hörte Ralph, wie sie sich die Zähne putzte. Schön zu wissen, daß sie sie noch hatte. In den zehn Minuten, während sie weg war, gelang es ihm, sich teilweise auszuziehen, aber mit den schmerzenden Rippen ging es langsam. Schließlich schaffte er es, sich aus dem Pullover zu winden und die Schuhe abzustreifen. Danach kam das Hemd, und er machte sich hilflos an seinem Gürtel zu schaffen, als Lois mit zurückgebundenem Haar und leuchtendem Gesicht herauskam. Ralph sah fassungslos ihre Schönheit, und plötzlich kam er sich zu groß und dumm (ganz zu schweigen von alt) vor. Sie trug ein langes rosa Nachthemd aus Seide, und er konnte ihre Handcreme riechen. Es war ein angenehmer Duft.

»Laß mich das machen«, sagte sie und hatte den Gürtel aufgeknöpft, bevor er etwas sagen konnte, so oder so. Daran war nichts Erotisches; sie machte es mit den geschickten Bewegungen einer Frau, die ihrem Mann in seinem letzten Lebensjahr häufig beim An-und Ausziehen geholfen hatte.

»Wir sind wieder unten«, sagte er. »Diesmal habe ich gar nicht gespürt, wie es passiert ist.«

»Aber ich, als ich unter der Dusche war. Eigentlich bin ich froh. Es ist ziemlich verwirrend, wenn man sich das Haar durch eine Aura hindurch waschen will.«

Draußen wehte der Wind, brachte das Haus zum Beben und blies einen langen, zitternden Ton auf einer Regenrinne. Sie sahen zum Fenster, und obwohl sie sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen befanden, war Ralph plötzlich überzeugt, daß Lois dasselbe dachte wie er: Atropos war irgendwo da draußen, zweifellos enttäuscht darüber, welche Wendung die Dinge genommen hatten, aber keineswegs niedergeschmettert, blutig, aber unbeugsam, am Boden, aber noch nicht ausgezählt. Von jetzt an nennen sie ihn Altes Einohr, dachte Ralph und erschauderte. Er stellte sich vor, wie Atropos auf einer willkürlichen Bahn durch die Einwohner dieser Stadt stob, wie ein irregeleiteter Asteroid, beobachtete und sich versteckte, Souvenirs stahl und Ballonschnüre durchschnitt… mit anderen Worten, Trost aus seiner Arbeit bezog. Ralph fand es fast unmöglich zu glauben, daß er vor kurzer Zeit erst auf dieser Kreatur gesessen und ihr mit ihrem eigenen Skalpell zugesetzt hatte. Wie konnte ch nur den Mut aufbringen? fragte er sich, aber er glaubte, daß er es wußte. Die Diamantohrringe, die das kleine Monster getragen hatte, waren der Grund dafür gewesen. Wußte Atropos, daß diese Ohrringe sein größter Fehler gewesen waren? Auf seine Art hatte Doc Nr. 3 noch weniger über die Motivation der Kurzfristigen gewußt als Klotho und Lachesis.

Er drehte sich zu Lois um und ergriff ihre Hand. »Ich habe deine Ohrringe wieder verloren. Ich glaube, diesmal sind sie endgültig fort. Es tut mir leid.« »Du mußt dich nicht entschuldigen. Weißt du nicht mehr, sie waren schon verloren. Und ich mache mir keine Sorgen mehr wegen Howard und Jan, denn jetzt habe ich einen Freund, der mir hilft, wenn die Leute mich nicht richtig behandeln oder wenn ich einfach nur Angst habe. Nicht wahr?«